20 Jahre Iglu-Studie: Lesekompetenz von Grundschüler:innen in Deutschland gesunken

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Die aktuelle Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigt, dass die mittlere Lesekompetenz im Vergleich zu 2001 in Deutschland deutlich gesunken ist. Rund ein Viertel der Grundschüler*innen erreicht nach internationalem Standard keine ausreichende Lesekompetenz und muss dementsprechend mit großen Schwierigkeiten im weiteren Verlauf der Schul- und Berufszeit rechnen. In den zwanzig Jahren der Studie hat sich die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland nicht verbessert.

Ist es Deutschland nach dem PISA-Schock 2000 gelungen, die gesteckten Ziele für die Weiterentwicklung der Bildung in Deutschland zu erreichen? Einen Eindruck davon kann die aktuelle Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, kurz IGLU, geben: Seit nunmehr 20 Jahren eruiert sie seit 2001 alle fünf Jahre, wie sich die mittlere Lesekompetenz in Deutschland im internationalen Vergleich entwickelt. Die Ergebnisse aus IGLU 2021 zeigen dabei ein ernüchterndes Bild: Die mittlere Lesekompetenz der Viertklässler*innen in Deutschland ist mit 524 Punkten im internationalen Vergleich zwar im Mittelfeld, verglichen mit der Ausgangserhebung 2001 (539 Punkte) und allen weiteren Erhebungen (2006: 548, 2011: 541, 2016: 537 Punkte) sind die mittleren Leistungen jedoch signifikant gesunken. Im Hinblick auf den Vergleich zwischen 2016 und 2021 liegt Deutschland nahe am Durchschnitt der teilnehmenden EU-Länder, die im Mittel in den letzten fünf Jahren ähnlich viel verloren haben. Allerdings erreichen einige europäische Länder wie beispielsweise Italien (537 Punkte), Bulgarien (540 Punkte), Polen (549 Punkte), Finnland (549 Punkte) oder England (558 Punkte) auch deutlich höhere mittlere Leistungen. Spitzenreiter sind Singapur (587 Punkte) und Hongkong (573 Punkte).

Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund und Wissenschaftliche Leitung von IGLU 2021 erläutert: „Die pandemiebedingten Beeinträchtigungen und die sich verändernde Schülerschaft erklären nur einen Teil dieses Leistungsabfalls. Es muss klar festgehalten werden, dass der Trend absinkender Schülerleistungen bereits seit 2006 besteht und die problematische Entwicklung in unserem Bildungssystem in den letzten Jahren durch diese Aspekte nur verstärkt wurde.“

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Iglu-Studie 2023

Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:

  • Die mittlere Lesekompetenz der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland liegt bei 524 Punkten. Deutschland unterscheidet sich nicht signifikant vom Mittelwert der EU-Vergleichsgruppe (527 Punkte) oder der OECD-Vergleichsgruppe (527 Punkte).
  • Die Leseleistungen in Deutschland sind gegenüber der ersten Erhebung vor 20 Jahren (2001: 539 Punkte) und gegenüber der letzten Erhebung (2016: 537 Punkte) signifikant gesunken. Auch hier unterscheidet sich Deutschland nicht signifikant vom europäischen Gesamttrend.
  • Ein Viertel der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland erreicht nicht den Standard für eine Lesekompetenz, die für einen erfolgreichen Übergang vom Lesen lernen zum Lesen um zu lernen notwendig ist (mindestens Kompetenzstufe III). Mit 25,4 Prozent liegt der Anteil über den Werten von 2001 (17 Prozent) und 2016 (19 Prozent).
  • Der Anteil der im Lesen leistungsstarken Schülerinnen und Schüler (Kompetenzstufe V) ist in Deutschland leicht auf 8,3 Prozent gesunken (2016: 11,1 Prozent; 2001: 8,6 Prozent).
  • Die Heterogenität der Leseleistungen ist in Deutschland hoch. Sie hat in Deutschland seit 2001 zugenommen.
  • Die Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben erhebliche Auswirkungen auf die Leseleistung gehabt. Die bei IGLU 2021 in Deutschland beobachtete Lesekompetenz ist signifikant niedriger als es ohne COVID-19-Pandemie bei Fortführung des Trends zu erwarten gewesen wäre.
  • Die Viertklässlerinnen und Viertklässler sind im Mittel mit ihrer Schule zufrieden und erleben sie als positiven Lernort.

Lehr- und Lernverhalten:

  • Die meisten Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland verfügen über eine im internationalen Vergleich hohe Lesemotivation.
  • 63 Prozent der Schülerinnen und Schüler lesen mindestens eine halbe Stunde täglich außerhalb der Schule. Dieser Anteil ist im internationalen Vergleich hoch (EU: 54 Prozent, OECD: 53 Prozent).
  • In der Schule wird in Deutschland zu wenig gelesen. Im Durchschnitt werden in Deutschland pro Woche 141 Minuten Unterrichtszeit für Leseunterricht und/oder Leseaktivitäten verwendet (OECD: 205 Minuten; EU: 194 Minuten).
  • Die Nutzungshäufigkeit digitaler Medien im Unterricht ist in Deutschland im internationalen Vergleich gering ausgeprägt.

Disparitäten:

  • Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Lesekompetenzen zugunsten der Mädchen sind wieder auf dem Niveau von 2001.
  • Die sozialen Disparitäten in der Lesekompetenz sind seit 20 Jahren unverändert. Die Viertklässlerinnen und Viertklässler aus sozioökonomisch benachteiligten Familien weisen nach wie vor starke Kompetenzrückstände auf, die im internationalen Vergleich hoch sind.
  • Kinder, die zu Hause (fast) immer Deutsch sprechen, haben Kompetenzvorsprünge gegenüber Kindern, die zu Hause nur manchmal oder nie Deutsch sprechen. Der Kompetenzvorsprung ist in Deutschland stärker ausgeprägt als im EU- und OECD-Schnitt.
  • Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland benötigen für eine Gymnasialpräferenz ihrer Lehrerkräfte eine deutlich höhere Lesekompetenz, wenn ihre Eltern einer niedrigeren Berufsklasse angehören. Kinder von un- oder angelernten Arbeitern benötigen für eine Gymnasialpräferenz eine Lesekompetenz von 575 Punkten während Kinder von Eltern einer oberen Berufsgruppe eine Lesekompetenz von 510 Punkte benötigen.

Hintergrund

Deutschland nimmt seit dem Jahr 2001 an der Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS) bzw. der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) teil, die das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler, ihre Einstellung zum Lesen und ihre Lesegewohnheiten am Ende der vierten Jahrgangsstufe erfasst. PIRLS/IGLU wird in einem fünfjährigen Rhythmus durchgeführt. Die nächste Erhebung findet im Jahr 2026 statt.

Erstmalig wurden in diesem Zyklus die Lesekompetenzen auch digital gemessen. Dafür haben die Schülerinnen und Schüler Leseaufgaben an Laptops bearbeitet.

An PIRLS/IGLU 2021 haben insgesamt 65 Staaten und Regionen teilgenommen. In Deutschland wurden 4.611 Viertklässlerinnen und Viertklässler aus 252 vierten Klassen in die Untersuchung einbezogen.

Aufgrund der pandemiebedingten Beeinträchtigungen konnten nur 37 der teilnehmenden Staaten und Regionen – einschließlich Deutschland – ihre Erhebung wie ursprünglich geplant im Frühjahr 2021 (Welle 1) durchführen. Zur internationalen Einordnung der Ergebnisse Deutschlands werden die EU- und OECD-Mittelwerte daher nur für diese Vergleichsgruppe aus Welle 1 berechnet.

Auf internationaler Ebene ist die International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) Initiator und verantwortlich für die Organisation. In Deutschland wurde PIRLS/IGLU 2021 unter der wissenschaftlichen Leitung von Frau Prof. Dr. Nele McElvany, Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund durchgeführt.

Weitere Informationen

www.ifs.ep.tu-dortmund.de/iglu2021/Nationaler Bericht
www.timssandpirls.bc.edu/pirls2021/Internationaler Bericht

20-Jahre-Trend: Ergriffene Maßnahmen zeigen keine ausreichende Wirkung

Neben dem Rückgang der mittleren Leistungen sind auch die Unterschiede zwischen guten und schwachen Lesenden in Deutschland im Vergleich zu 2001 größer geworden. Zudem sank der Anteil der guten bis sehr guten Lesenden von 47 Prozent in 2001 auf 39 Prozent in 2021, während gleichzeitig der Anteil derer, die nicht die mittlere Kompetenzstufe III erreichen, von 17 Prozent im Jahr 2001 auf 25 Prozent im Jahr 2021 anstieg.

„Die verschiedenen ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben kaum Wirkung im Hinblick darauf gezeigt, den Bildungserfolg sowie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern“, so Nele McElvany. Es zeigen sich weiterhin substanzielle Unterschiede sowohl bei der Leistung als auch bei der Gymnasialempfehlung in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund der Grundschulkinder. Um letztgenannte zu erhalten, müssen Kinder aus Arbeiterfamilien nach wie vor wesentlich mehr leisten als Kinder aus Akademikerfamilien. Auch bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Grundfähigkeiten hat ein Kind aus einer (Fach)Arbeiterfamilie eine 2,5 Mal geringere Chance auf eine Gymnasialpräferenz seiner Lehrkraft als ein Kind mit Eltern in der Oberen Dienstklasse (z.B. führende Angestellte und höhere Beamte).

Soziale Disparitäten, das macht IGLU 2021 deutlich, sind in Deutschland weiterhin stark ausgeprägt. Ebenso sind die migrationsbezogenen Leistungsdisparitäten im Vergleich zu 2001 nicht geringer geworden. „Befunde anderer Teilnehmerstaaten, wie beispielsweise Finnland, Italien oder Slowenien (für geringere soziale Disparitäten) oder Dänemark, Niederlande oder Tschechien (für geringere migrationsbezogene Unterschiede), zeigen hingegen positivere Ergebnisse und implizieren damit, dass eine starke Verknüpfung von familiärer Herkunft und schulischem Erfolg, wie es in Deutschland der Fall ist, keinen unausweichlichen Automatismus darstellen müssen“, führt die Bildungswissenschaftlerin aus.

Was folgt aus der Studie?

Angesichts des alarmierenden Rückgangs der mittleren Lesekompetenz und des hohen Anteils von einem Viertel der Schüler*innen mit unzureichender Lesekompetenz ist es notwendig, gezielte Maßnahmen (weiter) zu entwickeln. „Es hat in den vergangenen 20 Jahren zwar schon zahlreiche Bemühungen gegeben, doch zeigt die neueste Studie, dass die gewünschten Wirkungen in weiten Teilen ausgeblieben sind“, konstatiert die Bildungsforscherin von der TU Dortmund. Dazu ist es erforderlich, die Sicherung der grundlegenden Kompetenzen wie der Lesekompetenz durch eine systematische Kompetenzförderung in den ersten Grundschuljahren zu priorisieren. Während einerseits die Lesekompetenz der schwachen Lesenden gestärkt werden muss, muss gleichzeitig die der starken Lesenden gefördert und ausgebaut werden. Dabei ist auch die Quantität der lesebezogenen Aktivitäten in der wöchentlichen Unterrichtszeit zu bedenken: Während im internationalen Durchschnitt rund 200 Minuten pro Woche für Leseaktivitäten in der Unterrichtszeit aufgebracht werden, sind es in Deutschland gerade einmal 141 Minuten.

Nele McElvany weist mit Blick auf die gesellschaftliche Verantwortung nachdrücklich auch darauf hin: „In Bezug auf die substanziellen Bildungsungleichheiten zeigt IGLU, dass sich in den letzten 20 Jahren in Deutschland praktisch nichts verändert hat. Das hat hohe Kosten für die betroffenen Individuen, für unsere Gesellschaft und unser Land und darf nicht weiter so bleiben.“ Deutschland muss mit seinem Bildungssystem zukünftig sicherstellen, dass alle Kinder über eine grundlegende Lesekompetenz am Ende der Grundschulzeit verfügen.

Ergebnisse
Die ausführlichen Ergebnisse sind verfügbar unter: https://ifs.ep.tu-dortmund.de/iglu2021
Weiterführende Analysen zu zentralen Themen im Kontext der Grundschulen in Deutschland werden in der Reihe Tuesdays for Education ab dem 13. Juni 2023 monatlich unter https://ifs.ep.tu-dortmund.de/praxis-videoportal/praxisportal veröffentlicht.

Zur Studie
IGLU testet die Lesekompetenz und erfasst die Einstellung zum Lesen und die Lesegewohnheiten von Schüler*innen in der vierten Klasse im internationalen Vergleich in einem 5- Jahres-Zyklus. In Deutschland, das bereits zum fünften Mal an der repräsentativen Erhebung partizipierte, haben bei IGLU 2021 insgesamt 4.611 Schüler*innen aus 252 vierten Klassen, ihre Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen teilgenommen. International beteiligten sich rund 400.000 Schülerinnen und Schüler aus 65 Staaten und Regionen. Durch die umfangreiche Befragung werden wichtige Hintergrundinformationen gewonnen. Das zugrundeliegende Vorhaben wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) zu gleichen Anteilen gefördert.

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