Alle Kinder sind Matheforscher: Numeracy im Kindergarten?

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In der Beitragsreihe „Alle Kinder sind Matheforscher“ soll aufgezeigt werden, wie Mathematik im Kindergarten umgesetzt und begleitet werden kann. Dazu haben wir im ersten Beitrag diskutiert, was eigentlich mathematische Vorläuferfähigkeiten sind und wie sie erworben werden können. Im heutigen zweiten Artikel wird der im deutschen Sprachraum noch wenig bekannte Numeracy-Ansatz skizziert. Selbstverständlich gibt es dazu vielfältige Praxisbeispiele und Impulse bevor dann im dritten und damit letzten Beitrag vielfältige praktische Anwendungsmöglichkeiten für die Umsetzung mathematischer Bildung in der Kita vorgestellt werden. Ein Gastbeitrag von Mandy Fuchs.

 

Der Numeracy-Ansatz

„Numeracy“ kann allgemein mit Alltagsmathematik übersetzt werden und bezeichnet Kompetenzen, die benötigt werden, um auf mathematische Anforderungen in alltäglichen Situationen angemessen zu reagieren. Das meint, dass Kinder sich auf eine Weise mit Mathematik befassen, die den Anforderungen ihres gegenwärtigen und zukünftigen Lebens entsprechen. Darin eingeschlossen sind natürlich auch spätere Herausforderungen des Mathematikunterrichts, jedoch nicht in erster Linie. Die Kinder erkennen und verstehen nach und nach die Rolle und Bedeutung der Mathematik in ihrer Welt. Alltagsmathematik wird vor allem durch Spiel, durch Nachahmung und durch Eigenaktivität angeeignet. Numeracy-Kompetenz zeigt sich im verständnisvollen Umgang mit Mathematik und in der Fähigkeit mathematische Begriffe als „Werkzeuge“ in einer Vielzahl von Kontexten einzusetzen. Dieses Verständnis von Mathematik entspricht dem im englischen Sprachraum bekannten „Numeracy-Ansatz“ und kann mit dem im Bereich Sprache bereits seit längerem diskutierten und in der Praxis zunehmend akzeptierten „Literacy-Ansatz“ verglichen werden.

Die Gestaltung und Begleitung frühkindlicher mathematischer Bildung, die einem solchen Verständnis folgt, sollte dementsprechend drei Bereiche umfassen:

  • Mathematik im Alltag,
  • Mathematik im Spiel und
  • Mathematik innerhalb offen gestalteter Lernangebote.

Daraus ergibt sich folgende Modellierung:

 

Nachfolgend sollen alle drei Bereiche exemplarisch erläutert werden.
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Beobachtungen im Alltag von Kindertageseinrichtungen zeigen eindrucksvoll, dass Kinder oft auf natürliche Art und Weise Mathematik betreiben. Mathematik im Alltag ist z.B. in vielfältigen Ritualen im Tagesablauf zu finden, nämlich:

  • im Morgenkreis die anwesenden Kinder zählen,
  • bei den Mahlzeiten den Tisch decken,
  • zu Geburtstagsfeiern Süßigkeiten verteilen,
  • vor dem gemeinsamen Kochen einkaufen gehen und mit Geld bezahlen,
  • beim Kuchenbacken die Zutaten abmessen und abwiegen,
  • beim Zähneputzen die Zeit der Sanduhr einhalten,
  • am Morgen das Datum und den Wochentag bestimmen,
  • ein Türchen im Adventskalender aufmachen,
  • beim Aufräumen Spielsachen ordnen und sortieren,
  • beim Wimmelbücheranschauen Raum-Lagebeziehungen verwenden (neben, unter, rechts von,…)
  • sich bei der Körperpflege im Spiegel beobachten,
  • beim Spaziergang Formen von Verkehrszeichen erkennen oder Naturmaterialien sammeln, zählen, und sortieren.

 

Das Nutzen und Begleiten von derartigen Alltagssituationen erfordert von pädagogischen Fachkräften eine angemessene mathematikspezifische Handlungskompetenz. Im engen Zusammenhang mit dem Beobachten und Dokumentieren zeigt sie sich darin, dass Lernbegleiter situationsangemessen handeln und reagieren können, d.h. dass sie z.B.

  • ein Gespür für mathematische Momente entwickeln und bestimmte Situationen als mathematisch bedeutsam erkennen können,
  • diese Momente im Alltag der Kinder begleiten und sie für die weitere aktive mathematische Auseinandersetzung mit der Welt nutzen können,
  • die mathematischen Ideen der Kinder einordnen und in Äußerungen der Kinder mathematisch bedeutsame Inhalte erkennen können,
  • mathematisch nachfragen und produktiv reagieren können,
  • mit Kindern über mathematische Sachverhalte in einen Dialog treten und ko-konstruktive Bildungsprozesse der Kinder untereinander moderieren können.

Eine solche mathematikspezifische Handlungskompetenz wird von den jeweiligen Einstellungen und Haltungen der Lernbegleiter zur Mathematik geprägt. Um die mathematischen Lernprozesse der Kinder im Alltag angemessen und authentisch begleiten zu können, sollten Lernbegleiter deshalb

  • keine Angst vor Mathematik haben,
  • die Bereitschaft zeigen, sich (neu) auf Mathematik einzulassen,
  • im Idealfall eigene positive Erfahrungen mit mathematischen Problemstellungen gesammelt haben bzw. offen für neue mathematische Erfahrungen sein,
  • Freude, bestenfalls Begeisterung am Mathematiktreiben erleben können und
  • sich selbst Zeit nehmen, die Faszination, die von Mathematik ausgeht, bei den Kindern und vielleicht auch bei sich selbst, zu spüren.

Dementsprechend können Kinder also auf vielfältige Weise für Mathematik in ihrem Alltag sensibilisiert werden und zum mathematischen „Begreifen“ ihrer Umwelt angeregt werden.

 

Mathematische Bildung kann auch im Spiel möglich werden, wenn die Kinder vor allem im Freispiel Sachverhalte, Materialien und Spiele nutzen, die mathematische Aktivitäten von sich aus hervorrufen, z.B.

  • in Rollenspielen wie z.B. „Kaufmannsladen“ Zahlen- und Größenangaben verwenden,
  • bei Bau- und Legespielen mit Formen und Bausteinen agieren,
  • in Gesellschaftsspielen würfeln und Figuren setzen,
  • bei Bewegungs- und Versteckspielen sich im Raum orientieren,
  • bei Abzählreimen Zahlen verwenden,
  • beim Malen (Ausmal)Bilder oder Mandalas gestalten,
  • beim Spielen etwas ausschneiden und falten,
  • auf Parketten hüpfen oder (Mais)Labyrinthe durchlaufen,
  • beim Spielen Perlen und Knöpfen auffädeln,
  • bei Bewegungsspielen die Wippe nutzen oder um die Wette laufen,
  • beim Spiel im Sand oder mit Wasser in verschiedene Gefäße umfüllen.

Wenn also mathematische Ideen überall in der Umwelt und im Alltag sowie im Spiel der Kinder vorhanden sind, bedarf es einer angemessenen und sensiblen Begleitung durch die pädagogischen Fachkräfte, um diese Ideen erkennbar sowie bewusst zu machen und sie im oben beschriebenen Sinne mathematisch gewinnbringend für die Kinder zu nutzen. Damit Kinder – von der Vielzahl von Gegenständen der Mathematik in ihrer Lebenswelt ausgehend – ihre mathematischen Kompetenzen und ihr mathematisches Verständnis stärken können, sollten sie immer wieder Möglichkeiten erhalten, eigenen Denkwegen zu folgen und sich vertiefend mit mathematischen Phänomenen zu beschäftigen. Genau dazu sind jedoch Interaktionen mit einer Person nötig, „die das mathematische Prinzip hinter ihrer Tätigkeit gemeinsam mit ihnen erschließt.“ (Fthenakis u.a. 2009, S.47). Eine solche Begleitung erfordert natürlich eine enorme fachliche Professionalität und Sensibilität. Mathematisch substanzielle Aktivitäten von Kindern sollten deshalb von den Lernbegleitern zunächst wahrgenommen werden und zu gegebener Zeit (um Spielaktivitäten auch nicht zu stören oder vorschnell zu unterbrechen) durch geschickte Impulse bzw. anregende offene Fragestellungen zu weiteren Denk- und Handlungsprozessen anregen.

 

Frühkindliche mathematische Lernprozesse sind einerseits also sowohl natürlicher Bestandteil des Alltags aller Kinder (Mathematik im Alltag) als auch auf natürliche Weise in vielen Spielsituationen enthalten (Mathematik im Spiel), denn im Elementarbereich herrschen informelle und non-formale spielerische Lernformen vor. Mathematische Lerngelegenheiten ergeben sich jedoch nicht immer (was sie auch nicht müssen) und nicht jede Alltags- bzw. Spielsituation ist gleichermaßen mathematisch ergiebig. Ferner lassen sich natürlich auch Unterschiede zwischen den Kindern feststellen. Manche Kinder finden zahlreiche Anregungen in ihrer Umwelt und werden von sich aus mathematisch tätig, ohne dass sich Erwachsene einmischen müssten. Andere Kinder jedoch benötigen stärker Impulse, Ermunterungen bzw. Anregungen für ihr mathematisches Handeln. Dementsprechend sollte eine kindorientierte mathematische Bildung auch bewusst initiierte offene mathematische Lernsituationen einschließen. Hiermit sind jedoch keinesfalls klassische Angebote oder gar lehrgangsorientierte Förder- und Trainingsprogramme gemeint, denn diese beiden Ansätze würden nicht dem hier vertretenen Numeracy-Ansatz entsprechen. Stark angeleitete und in erster Linie instruierende „Beschäftigungen“ und Programme sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Fachkraft kleinschrittig und teilweise sogar schwierigkeitsgestuft das gemeinsame Vorgehen plant und durchführt, den zeitlichen Ablauf vorher akribisch strukturiert, um ein bestimmtes Endprodukt (Ergebnis) für alle Kinder sicher zu stellen. Die Kinder befinden sich in diesen Fällen oft in einer passiven Konsumentenrolle, wurden extrinsisch motiviert und verhalten sich tendenziell angepasst. Solchen geschlossenen Angeboten und Programmen fehlt eindeutig die Kindorientierung. Das Instruktionslernen steht im Vordergrund, wobei größtenteils eine „Verschulung“ beobachtbar ist, die defizitorientiert ausgerichtet ist und die Kinder als passive Konsumenten sieht.

Was genau offene mathematische Lernangebote sind und wie sie unkompliziert in der Praxis eingesetzt werden können, soll im nächsten Beitrag vorgestellt werden.

 

Impulse für die Praxis
  1. Wie viel Mathematik steckt in Ihrem Kitalltag? Schauen Sie doch einmal eine Woche (oder auch nur einen Tag lang) lang Ihren Tagesablauf durch die „mathematische Brille“ an! Orientieren Sie sich dabei z.B. an mathematischen Inhaltsbereichen (Raum und Form; Zahl und Struktur; Maße, Zeit und Geld sowie Daten, Zufall und Wahrscheinlichkeiten) sowie an den wesentlichen mathematischen Prozesszielen (Kreativ sein und Probleme lösen; Kommunizieren und Argumentieren; Begründen und Prüfen sowie Ordnen und Muster)! Berücksichtigen Sie auch Möglichkeiten für mathematische Denk- und Handlungsweisen: Eins-zu-eins-Zuordnungen, Zählen und Abzählen, Reihenfolgen bilden, Vergleichen, Sortieren (Klassifizieren), Ordnen, …)!
  2. Wie nutzen Sie dieses mathematische Potential?
  3. Untersuchen Sie vorhandene Spiele, Materialien und Bücher bzgl. ihres mathematischen Potentials! Wie viel Mathematik steckt in den Spielen, Spielmaterialien und Büchern? Was davon nutzen die Kinder von sich aus? Wann benötigen sie Impulse bzw. Anregungen von Ihnen?
Über die Autorin

Dr. Mandy Fuchs arbeitet als Referentin und Autorin für innovative Bildung und Pädagogik. Sie war viele Jahre selbst im aktiven Schuldienst tätig – zunächst als Grundschullehrerin, später als stellvertretende Schulleiterin. Darüber hinaus war Dr. Mandy Fuchs als Mitarbeiterin und Dozentin in der Lehrerausbildung an der Technischen Universität Braunschweig und der Wilhelmsuniversität Münster tätig, worauf ihre Promotion zum Themenfeld Hochbegabung in der Grundschule aufbaut. Als Inhaberin einer Professur arbeitete die Referentin auch mehrere Jahre im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg und bildete dort zukünftige Kindheitspädagogen aus. Zahlreiche Publikationen verfasste sie u.a. zu Themen wie mathematische Begabungen im Kindesalter, frühkindliche Potenzialentfaltung oder Individualität und Kompetenzorientierung bei Kindern.

Hinweise, Feedback und Anregungen gern an: kontakt@mandyfuchs.de

Literaturhinweise und Tipps für weitere Informationen und Materialien zum Thema:

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