Diagnose Legasthenie

Hilfen, Strategien und Folgen

Viele Fragen schießen Jans Mutter durch den Kopf, als die Kinderpsychologin ihr die  Diagnose mitteilt: „Wir haben bei Ihrem Sohn eine Legasthenie festgestellt.“ Sicherlich wird sie beraten, denn jetzt gibt es viel zu tun: Die Schule muss informiert werden, damit die Lehrer bei der Benotung Rücksicht auf Jans Schwäche nehmen können. Die Eltern wollen sich einer Selbsthilfegruppe anschließen, um sich im Gespräch mit anderen Eltern Entlastung und Tipps zu holen. Jan soll eine Legasthenie-Therapie erhalten. Die muss beantragt und eine geeignete Stelle für die Therapie gefunden werden – und, und, und …

Unter Legasthenie versteht man eine spezifische Schwäche beim Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens bei (mindestens) durchschnittlicher Intelligenz.

Das bedeutet: Legastheniker sind keinesfalls „dumm“, sie sind auch absolut nicht ungeeignet für die Regelschule oder weiterführende Schulen. Sie sind normal intelligente, manchmal sogar hoch intelligente Kinder. Sie haben einen Bereich, in dem sie schwach sind. (Wer hat den nicht?) Aber sie haben das Pech, dass dieser Bereich in unserer Gesellschaft, unserem Schulsystem sehr, sehr wichtig ist. Wären sie in einem anderen Kontinent geboren – vielleicht als kleine Chinesen – wohl niemand würde diese Schwäche überhaupt bemerken.

Versagen ohne erkennbaren Grund

Neben einer normalen Intelligenz ist für die Diagnose einer Legasthenie weiterhin wichtig, dass keine erkennbaren Gründe für das Versagen beim Lesen- und Schreibenlernen vorliegen – wie zum Beispiel ein Seh- oder Hörfehler oder eine „unzureichende Beschulung“ – wie sie etwa dann vorliegt, wenn ein Kind krankheitsbedingt nur selten am Unterricht teilnehmen kann. Natürlich darf auch eine psychiatrische Erkrankung (zum Beispiel Schizophrenie) oder eine große psychische Belastung (etwa Trennung der Eltern) nicht als Ursache für das Versagen des Kindes infrage kommen.

Einfach ausgedrückt handelt es sich also bei der Legasthenie um ein unerklärliches isoliertes Versagen im Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens.

Und wenn sich doch eine Erklärung für das Versagen finden lässt?

Neben diesem unerklärlichen Versagen beim Lesen- oder Schreibenlernen ist auch ein „erklärliches“ Versagen denkbar – und das ist von einer Legasthenie abzugrenzen. Stellen wir uns einmal vor, ein Kind ist im ersten Schuljahr sehr lange krank – hier entstehen natürlich große Lücken im Schulstoff, und Lernprobleme sind oft unausweichlich. Ähnlich wird es einem Kind ergehen, das beispielsweise durch die Trennung seiner Eltern psychisch stark belastet ist. Dieses Kind ist sicherlich nicht aufnahmebereit für das Lernangebot in der Schule. Auch ein früher Schulwechsel – etwa durch einen Umzug der Familie – kann einen solchen Belastungsfaktor darstellen, der dem Kind einen reibungslosen Schriftspracherwerb erschwert.

Diese und noch viele weitere „besondere Lebensumstände“ können Ursachen für Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen sein. In der Regel verschwinden diese Lernprobleme allmählich, wenn sich die Belastungssituation des Kindes entspannt. Wir sprechen darum in diesen Fällen von „vorübergehender Lese-Rechtschreib-Schwäche“ und nicht von einer echten Legasthenie. Eine solche „vorübergehende Lese-Rechtschreib-Schwäche“ kommt bei etwa 10 % unserer Kinder vor.

Was geschieht bei unterdurchschnittlicher Intelligenz?

Noch eine weitere Gruppe von Kindern hat Lese-Rechtschreib-Probleme – und auch die gehören nicht in die Kategorie der Legastheniker. Das sind Kinder mit einer „allgemeinen Minderbegabung“. Hier handelt es sich um Kinder, deren Intelligenz im Grenzbereich liegt. Ihre intellektuelle Grundausstattung reicht nicht aus, dass sie in der Regelschule problemlos mithalten können. Diese Kinder haben aber nicht nur beim Lesen und Schreiben Probleme. Ihnen fallen die meisten Bereiche des schulischen Lernens und Arbeitens enorm schwer – meist über die gesamte Schulzeit hinweg. Wir sprechen in diesem Fall von einer „allgemeinen Lese-Rechtschreib-Schwäche“. Diesen Kindern ist zu wünschen, dass sie in der Regelschule vermehrt sonderpädagogischen Beistand und Förderung erhalten, sodass sie von echter Inklusion profitieren können.

Die „echte“ Legasthenie

Von einer Legasthenie, die den eingangs genannten strengen Kriterien (mindestens durchschnittliche Intelligenz, überdauernde Probleme beim Schriftspracherwerb, für die keine äußeren Ursachen auffindbar sind) genügt, sind etwa 5 % unserer Schulkinder betroffen. Statistisch gesehen sitzt demnach in jeder Schulklasse mit durchschnittlich 25 Schülern ein legasthenes Kind. Die Tatsache, dass Jungen etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Mädchen, mag an geschlechtstypischen Unterschieden liegen: Mädchen sind den Jungen generell in der sprachlichen Entwicklung überlegen (Jungen sind dafür in anderen Bereichen, zum Beispiel der räumlichen Vorstellung, den Mädchen voraus).

Wie die Diagnose erfolgt

Ein Wort vorweg: Kein Lehrer – auch nicht der erfahrenste und engagierteste – kann eine Legasthenie sozusagen auf den ersten oder zweiten Blick bei einem seiner Schüler diagnostizieren. Sicher kann ein wachsamer Lehrer aber Hinweise auf das Vorliegen einer Legasthenie finden und die Eltern ermutigen, diesen Hinweisen nachzugehen und ihr Kind fachärztlich untersuchen zu lassen. Vor allem: Kein Lehrer kann zweifelsfrei feststellen, dass ein Kind kein Legastheniker ist. Und doch hört man oft, dass Lehrer bestreiten, ein Kind könne Legastheniker sein („Denn er macht ja keine typischen Fehler“ oder „Ich habe noch viel schwächere Rechtschreiber in der Klasse“).

Tatsächlich glaubte man lange, dass Legastheniker immer ganz typische Fehler machen – etwa das Verwechseln von „b“ und „d“ oder „p“ und „q“ oder das Vertauschen der Reihenfolge von Buchstaben (etwa „Rabne“ statt „Raben“). Sicher unterlaufen legasthenen Schülern unter anderem auch solche Fehler. Aber bei der Vielzahl der Fehlertypen, mit denen sich Legastheniker plagen müssen, gibt es keine sogenannten „typischen Fehler“.

Legastheniker machen keine „typischen Rechtschreibfehler“.
Sie machen nur wesentlich mehr Fehler als andere Kinder.

Legastheniker haben auch kein „stabiles Fehlerprofil“. Das heißt: Sie machen nicht immer die gleichen Fehler. Ein Wort, das heute falsch geschrieben wird, kann morgen auf ganz andere Weise falsch geschrieben werden. Und übermorgen kann das Wort sogar richtig geschrieben werden, wobei keinerlei Garantie besteht, dass mein Kind nicht am folgenden Tag einen ganz anderen Fehler in dieses Wort „einbaut“.

Für eine Mutter, die Tag für Tag übt und hofft, dass all diese Mühen endlich Früchte tragen, dass das Kind doch einmal behält, was man stundenlang gepaukt hat, ist eine solche Situation natürlich zum Verzweifeln. Und manchmal fragt sie sich wahrscheinlich insgeheim: „Ist mein Kind vielleicht tatsächlich zu dumm zum Schreiben?“

 Wie wir schon gehört haben, ist mangelnde Intelligenz bei einem Legastheniker sicher nicht die Ursache der Lernprobleme. Denn es ist ja gerade der große Unterschied zwischen der guten Intelligenz des Kindes und seinen schwachen Leistungen im Lesen oder Schreiben, der diese Störung definiert.

Gleich vorweg: Die typischen Legasthenie-Ursachen gibt es nicht. Legasthenie ist nicht vergleichbar mit einer Krankheit aus dem Bereich der Medizin (zum Beispiel einem Herzinfarkt), die bei jedem Patienten immer die gleichen Ursachen hat und auch immer die gleichen Symptome hervorruft. Legasthenie zeigt keine typischen Symptome (also Rechtschreibfehler) – und sie hat auch keine einheitlichen Ursachen.

Die Ursachen der Legasthenie

Die wissenschaftliche Klärung der Faktoren, die an der Entstehung einer Legasthenie beteiligt sind oder sein können, ist noch im Fluss. Eines aber ist sicher: Bei jedem Kind gibt es für die Legasthenie ein ganzes Bündel individueller Ursachen. Diese Ursachen sind biologischer Natur und hängen mit der Reifung des zentralen Nervensystems (ZNS), also mit der Hirnentwicklung, zusammen. Durch Besonderheiten oder Anomalien in der Reifung des ZNS werden bestimmte Funktionen (etwa im Bereich der sprachlichen Verarbeitung) nur eingeschränkt ausgebildet. Erst das Zusammenfallen verschiedener solcher „Teilleistungsschwächen“ führt dann dazu, dass ein Kind für das Lesen- und Schreibenlernen unzureichend ausgestattet ist.

Doch worin liegen nun die eigentlichen Ursachen für diese biologischen Besonderheiten der Legastheniker? Hier gibt es zum einen den genetischen Faktor. Wir finden bei etwa 40 % unserer legasthenen Kinder im näheren familiären Umfeld weitere Personen, die ebenfalls gravierende Probleme mit dem Schriftspracherwerb haben oder hatten. Vererbt wird hier nicht die Legasthenie an sich, sondern die „Disposition“, also eine erhöhte „Anfälligkeit“ für Störungen im schriftsprachlichen Bereich.

Auch die Umwelt – in diesem Falle die Anregung der Sprachentwicklung durch das Elternhaus, die Förderung des Interesses, der Motivation und der Kompetenz im Umgang mit Sprache und Schriftsprache – spielt (wie immer in der menschlichen Entwicklung) eine Rolle. Jedoch sind diese Einflüsse lediglich von zusätzlicher Bedeutung. So kommt es nicht von ungefähr, dass auch Kinder, die in einem sprach- und lesebegeisterten Umfeld aufwachsen und hier optimale Anregung und Förderung erfahren, eine Legasthenie ausbilden können. Andererseits gelingt es Kindern, die in ihrer Entwicklung mit sehr wenig förderlicher Anregung von außen auskommen müssen, glücklicherweise vielfach, mit dem Lesen- und Schreibenlernen gut zurechtzukommen.

Wenn Ihr Kind eine Legasthenie ausbildet, ist das mit Sicherheit nicht in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Sie zu wenig oder falsch geübt hätten.

So kann es für Ihr Kind fatal sein, wenn Sie – obwohl der Erfolg ausbleibt – weiter und weiter üben. Sollte der geringste Verdacht bestehen, dass Ihr Kind speziell mit dem Lesen und dem Schreibenlernen nicht zurechtkommt, führt kein Weg an einer gezielten Diagnostik beim Schulpsychologen bzw. beim Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorbei.

Was tun bei Legasthenie-Verdacht?

Legasthenie-Verdacht sollten Sie nicht erst dann schöpfen, wenn‘s im dritten oder vierten Schuljahr Fünfen und Sechsen im Diktat hagelt. Verlassen Sie sich schon in den ersten Schuljahren auf Ihren Eindruck: Lesen Sie das erste Jahreszeugnis genau – auch zwischen den Zeilen. Steht da, dass Ihr Kind auch weiterhin fleißig üben muss, um mit den Lernwörtern oder dem flüssigen Lesen zurechtzukommen? Steht unter den meisten geübten oder ungeübten Diktaten, Ihr Kind solle noch mehr üben? Haben Sie bei all dem das Gefühl „Mehr üben geht doch gar nicht mehr“?

Verlassen Sie sich nicht auf den „Knoten“, der irgendwann „platzen“ wird. Zwingen Sie Ihr Kind und sich selbst nicht zum täglichen (erfolglosen) Üben. Holen Sie sich Gewissheit. Je weniger Druck und Misserfolg Ihr Kind erleiden muss, umso weniger werden seine Persönlichkeit und sein Selbstwertgefühl angegriffen.

Natürlich werden Sie als Erstes untersuchen lassen, ob Ihr Kind richtig hört und sieht. Das Hören testet der HNO-Arzt, eine weiterführende Diagnostik ist in der Pädaudiologie möglich. Auch Störungen des Sehens müssen natürlich frühzeitig erkannt werden. Augenveränderungen verursachen zwar keine Legasthenie, aber es gibt Veränderungen der Augen, die eine Schwäche beim Lesen zur Folge haben und damit eine Legasthenie vortäuschen können. Deshalb sollte eine genaue augenärztliche Untersuchung erfolgen mit Überprüfung der Akkommodation.

Was testet der Kinder- und Jugendpsychiater?

Eine Untersuchung auf Legasthenie beinhaltet zwei Bereiche: den medizinischen und den psychologischen. Im Rahmen der medizinischen Diagnostik wird unter anderem die körperliche Entwicklung des Kindes begutachtet. Zum Beispiel wird die Hirnaktivität über ein EEG erfasst. Insgesamt soll über diesen medizinischen Teil der Untersuchung geklärt werden, ob sich bestimmte körperliche (neurologische, physiologische etc.) Ursachen für das Lernproblem erkennen lassen.

Die psychologische Diagnostik besteht im Wesentlichen aus der Durchführung psychologischer Tests. Hier wird zum einen die Intelligenz des Kindes überprüft, dann natürlich die Leistungen im Rechtschreiben und Lesen. Not- falls wird auch die Konzentrationsleistung noch gesondert überprüft. Solche Tests geben objektive Informationen über den Leistungsstand eines Kindes. Denn sie wurden an sehr großen, repräsentativen Stichproben „geeicht“ und erlauben es deshalb, die individuelle Leistung eines Kindes vor dem Hintergrund dieses Bezugsrahmens einzuordnen.

Testergebnisse werden in Prozenträngen (PR zwischen 0 und 100) angegeben. Der Rang gibt den Prozentsatz von Kindern gleicher  Klassenstufe an, die in diesem Test gleich gut oder schwächer abschneiden. Erzielt ein Kind einen Prozentrang von PR = 10, bedeutet das, dass 90 % der Kinder dieser Klassenstufe  besser  abschneiden  als  das  getestete  Kind.  Mit  einem PR = 50 liegt ein Kind also genau im Mittelfeld und erbringt eine durchschnittliche Leistung. Der Normalbereich erstreckt sich von PR = 16 bis PR = 84. Daneben finden wir in kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachten vielfach auch T-Werte; hier liegt der Normalbereich zwischen T = 40 und T = 60.

Was geschieht beim Intelligenztest?

Es gibt viele verschiedene Testverfahren zur Feststellung der Intelligenz und Ermittlung des Intelligenzquotienten eines Kindes. In den ausführlichen Verfahren, deren Durchführung deutlich mehr als eine Stunde dauert, werden.

Viele verschiedene Aspekte der Intelligenzleistung gründlich überprüft. So erfasst beispielsweise ein aktuelles Verfahren, die „Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC-IV)“, die folgenden vier Bereiche: 1. Sprachverständnis, 2. wahrnehmungsgebundenes logisches Denken, 3. Arbeitsgedächtnis und 4. Verarbeitungsgeschwindigkeit. Damit ist eine umfassende Beschreibung der kognitiven Grundausstattung eines Kindes gewährleistet. Kürzere Testverfahren, z. B. der CFT 1-R oder CFT 20-R, messen hingegen nur spezielle Aspekte der Intelligenz, etwa das schlussfolgernde Denken.

Selbstverständlich ist bei der Überprüfung der Intelligenz den ausführlichen Verfahren der Vorzug zu geben, weil diese neben dem IQ (Intelligenzquotient) noch viele weitere Informationen über die intellektuelle Grundausstattung des Kindes liefern. Das Ausmaß an Intelligenz, über die eine Person verfügt, wird meist als IQ angegeben. Hier liegt der „Normalbereich“ zwischen 85 und 115, der genaue Mittelwert beträgt 100. Natürlich gibt es auch Intelligenzquotienten unter 85, hier sprechen wir von Minderbegabung. Bei einem IQ über 115 ist die Begabung überdurchschnittlich, ab IQ = 130 finden wir den Bereich der Hochbegabung.

Was geschieht beim Rechtschreibtest?

Die Rechtschreibkompetenz eines Kindes wird meist mit sogenannten Lückentexten überprüft. Hier soll das Kind diktierte Wörter eintragen. Die Wörter sind dabei nach Schwierigkeitsgrad, Fehlerträchtigkeit und sonstigen Kriterien ausgewählt, sodass die Auswertung nicht nur quantitative Ergebnisse liefert („Wie gut ist mein Kind im Rechtschreiben?“), sondern auch qualitative

Angaben („Wo liegen die Fehlerschwerpunkte meines Kindes?“). Relativ neu sind Testverfahren, die sich nicht eines Lückentextes bedienen, sondern die Rechtschreibung in einem Fließtext überprüfen. Einen solchen Fließtext können wir uns wie ein ganz normales Diktat vorstellen, dessen Besonderheit aber darin besteht, dass es „geeicht“ wurde. So haben Tausende von Kindern dieses Diktat geschrieben. Sie bilden den Bezugsrahmen, vor dem dann die Leistung unseres Testkindes eingeordnet werden kann. Der Vorteil eines Fließtextes besteht darin, dass hier wesentlich mehr Fehlerquellen erfasst werden können als im Lückentext. So fallen auch Kinder auf, die „Wortschlangen“ schreiben, also die Wortgrenzen nicht erfassen, aber auch Kinder, die schwierige Wörter richtig – dafür aber leichtere Wörter (wie etwa „nich“ statt „nicht“) falsch schreiben. Daneben erlaubt der Fließtext auch eine solidere Überprüfung der Rechtschreibleistung bei Kindern mit starken Aufmerksamkeitsschwankungen.

Was geschieht beim Lesetest?

Es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Tests. Denn beim Lesen lassen sich verschiedenste Aspekte der Lesefertigkeit prüfen: lautes Vorlesen, leises Lesen, Lesegeschwindigkeit, Lesegenauigkeit etc. Hier gilt es zu bedenken, dass das leise Lesen der „natürlichen Lesesituation“ am ähnlichsten ist. Außerdem ist in der deutschen Sprache die Lesegeschwindigkeit eines Kindes wesentlich aussagekräftiger als die Lesegenauigkeit (also die Angaben über die Lesefehler, die ein Kind macht). Eine solide Testung der Leseleistung eines Kindes sollte sich wiederum an den Stufen der Entwicklung orientieren: So sollte die alphabetische Strategie erfasst werden, etwa über das Lesen von

„Unsinnswörtern“ (z. B. „lomas“, „ruson“). Hier zeigt sich, ob das Kind hinreichend genau und sicher liest und ob auch die Buchstabe-Laut-Verbindungen gut verfügbar sind. Dann sollte über das möglichst schnelle Lesen echter Wörter („Haus“, „Baum“ etc.) die Geschwindigkeit im Sinne der orthographischen Strategie überprüft werden. Schließlich lässt sich auch das Leseverständnis differenziert überprüfen, einerseits in Bezug auf das Verständnis einzelner Sätze, andererseits auch mit Blick auf das sinnentnehmende Lesen ganzer Texte. Eine solche Testung ermöglicht die umfassende Beurteilung der Lesekompetenz eines Kindes und zeigt auch an, auf welchem Niveau sinnvolle Übungen ansetzen können.

Was sagen uns die Testergebnisse?

Durch die psychologische Diagnostik erhalten wir Informationen über die intellektuelle Grundbegabung des Kindes und darüber, wie das Kind in verschiedenen Leistungsbereichen abschneidet. Zwei Beispiele sollen verschiede- ne Befundbilder verdeutlichen:

Bei Timo (3. Klasse) wurde ein IQ von 98 festgestellt, er ist demnach durchschnittlich intelligent. Im Rechtschreiben erzielt er einen Prozentrang von 54, die- se Leistung liegt ebenfalls im Durchschnittsbereich. Intelligenz und Rechtschreibleistung passen also gut zusammen. Es ist keine überraschende Diskrepanz zwischen Intelligenz und Rechtschreibleistung feststellbar.

Jana (3. Klasse) ist mit einem IQ von 104 ebenfalls durchschnittlich intelligent. Im Rechtschreiben erreicht sie jedoch lediglich einen Prozentrang von 7. Im Lesen liegt der Prozentrang bei 9. Außerdem wurde noch ein Mathematiktest durchgeführt. Bei diesem schnitt Jana mit einem Prozentrang von 48 wieder durchschnittlich ab. Hier zeigt sich ein drastischer Unterschied zwischen Janas Intelligenz und ihren Leistungen im Lesen und Schreiben. Außerdem finden wir noch eine große Diskrepanz zwischen ihrer Lese-Rechtschreib-Leistung und ihrer Mathematikleistung. Jana hatte schon seit der ersten Klasse große Probleme im Lesen und Rechtschreiben. Diese Befunde sprechen für eine Legasthenie.

Jana leidet sehr unter ihrem ständigen Versagen beim Lesen und Schreiben. Die Probleme wurden von Jahr zu Jahr schlimmer. Während es zu Beginn der ersten Klasse „nur“ die Lese- und Schreibübungen waren, bei denen sie versagte, kamen allmählich die Proben in Heimat- und Sachkunde als große Hürde hinzu: Meist konnte sie die schriftlich gestellten Fragen nicht lesen, geschweige denn ihr Wissen schriftlich aufs Papier bringen. Dann kamen die Sachaufgaben in Mathematik. Jana hätte zwar die Rechnung spielend gekonnt, aber sie konnte ja noch nicht einmal die Aufgabe verstehen. So war die Lage:

Jana war in Heimat- und Sachkunde schwach, obwohl die Themen sie brennend interessierten, Jana war in Mathematik schwach, obwohl sie gern und gut rechnete – und all das nur, weil sie in einem Bereich tatsächlich sehr schwach war: im Lesen und Schreiben. Aus Jana wurde allmählich eine Schulversagerin. Sie war in allen Kernfächern abgesackt, und eine Klassenwiederholung stand bevor. Welche Perspektive hat sie?

Was wird aus Legasthenikern?

Wie wir schon gehört haben, verwachsen sich die Lese-Rechtschreib-Probleme eines Legasthenikers nicht. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Leistungen im Lesen und Rechtschreiben sehr stabil sind. Das heißt: Die Kinder, die beispielsweise im zweiten Schuljahr die Schwächsten der Klasse sind, werden es auch in der achten Klasse sein. Die Kinder, die zu Beginn der Grundschulzeit die langsamsten Leser und Schreiber mit den meisten Fehlern sind, werden es mit großer Sicherheit auch noch zum Ende ihrer gesamten Schulzeit sein.

Sicherlich können Legastheniker, wenn sie die Schulzeit hinter sich gebracht haben, beruflich (und sicher auch privat) einer Beschäftigung mit Schriftsprache erfolgreich aus dem Weg gehen. Sie werden also nicht in Büros oder Ämtern zu finden sein. Trotzdem muss es uns zu denken geben, dass eine wissenschaftliche Untersuchung zu dem Ergebnis kam, dass 26 % der über viele Jahre beobachteten Legastheniker mit 26 Jahren arbeitslos waren. Außerdem finden wir bei Legasthenikern ein deutlich erhöhtes Risiko, in späteren Jahren depressiv oder straffällig zu werden. Dies liegt darin begründet, dass den betroffenen Kindern schon während der Grundschulzeit, also in einer sehr sensiblen Phase der Persönlichkeitsentwicklung, durch ständige Misserfolgserlebnisse der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls massiv erschwert wird.

Legastheniker haben es schwer

Legastheniker sind von „Ausgliederung“ bedroht: In der Grundschule werden sie nicht selten gehänselt, zu Unrecht getadelt, mit Üben bestraft, bleiben trotzdem „sitzen“. Später bleibt ihnen unter Umständen trotz überdurchschnittlicher Intelligenz der Übertritt in eine höhere Schule verwehrt. Sicher wird niemand widersprechen, wenn gefordert wird, jedes Kind solle gemäß seiner Begabung (womit gemeinhin die Intelligenz gemeint ist) Zugang zu einer bestimmten Schulart finden. Wie lässt es sich jedoch begründen, wenn einem ausnehmend intelligenten Kind der Zugang zum Gymnasium verwehrt bleiben soll? Wenn es selbst in der Regelschule falsch zu sein scheint? Wenn es sich schließlich selbst für zu dumm hält, um in dieser Gesellschaft seinen Platz zu finden? Legastheniker finden keinen Platz. Darum brauchen sie unsere Hilfe – möglichst früh.

(Petra Küspert)

 

Textauszug aus:

Petra Küspert,
Neue Strategien gegen Legasthenie
Lese- und Rechtschreibschwäche: Erkennen, Vorbeugen, behandeln
Oberstebrink 2015
Hardcover, 192 Seiten
4-fbg. Abb. und Illustrationen
ISBN: 978-3-934333-12-3
19,90 €
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Foto: © Picture Factory / www.fotolia.com

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