Interview: Partizipation im Kita-Alltag

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Für Kita-Demokratie und Partizipation ist es nie zu früh. Über Probleme diskutieren, Kompromisse finden, den Alltag aktiv mitgestalten – dazu haben Kinder ein Recht. Doch wie gelingt das eigentlich? Ein Gespräch mit Rüdiger Hansen vom Institut für Partizipation und Bildung in Kiel.

 
Partizipation, die Beteiligung an wichtigen Entscheidungen ist ein Menschenrecht, das auch für Kinder gilt. Aber was lernen die Kinder, wenn sie den Kita-Alltag mitgestalten dürfen?

Rüdiger Hansen: Diese Frage wird mir oft gestellt. Trotzdem verweigere ich mich zunächst einer Antwort. Es ist nämlich der Kern der Menschenwürde, über seine eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden zu können. Da stellt sich die Frage nach einem „pädagogischen“ Zweck erstmal gar nicht. Es gibt für mich einen „funktionalen“ Aspekt, den ich hier nennen würde. Und zwar schützen demokratische Rechte vor allem die Schwächeren im System. Deshalb ist die Demokratisierung der Kindertagesstätten ein wichtiges Mittel, um Machtmissbrauch entgegen zu wirken. Alle anderen Aspekte wie die Stärkung der Kinder, die Erhöhung von Eigenverantwortung oder Akzeptanz von gemeinsam verabschiedeten Regeln sind schön und wichtig, aber nur „Beiwerk“ zu diesem grundlegenden Menschenrecht.

 

Bei welchen Themen können Kinder besonders gut beteiligt werden?

Rüdiger Hansen: Auch diese Frage wird häufig gestellt und ich halte auch sie nicht für einen guten Einstieg. Demokratie kann nicht häppchenweise realisiert werden. Damit machen wir das Thema „Partizipation von Kindern“ nur unnötig klein. Aus meiner Sicht geht es um nicht weniger als einen grundlegenden Paradigmen-Wechsel in der Pädagogik. Wir sollten uns nicht fragen, wo wir die Kinder gnädiger Weise beteiligen können. Wir müssen uns vielmehr fragen, bei welchen Themen es zu rechtfertigen ist, dass wir die Kinder nicht beteiligen, welche guten Gründe es dafür geben kann. Und für dieses Umdenken braucht es Zeit und viel Geduld. 

 

Aber ich kann doch als Kita-Leitung nicht von einem Tag auf den anderen einen Paradigmen-Wechsel einführen. Es ist doch ein langer Weg, der mit kleinen Schritten beginnen muss.

Rüdiger Hansen: Der erste Schritt ist, ein Ziel vor Augen zu haben. Aber natürlich gebe ich Ihnen recht, eine umfassende Beteiligung von Kindern ist ein stetiger Lernprozess – vor allem für die Erwachsenen. Und der beginnt oft mit einzelnen Projekten. Kinder entscheiden zum Beispiel über die Gestaltung eines Festes oder des Eingangsbereichs mit. Diese punktuelle Beteiligung dient aber vorrangig dazu, den Erwachsenen Erfahrungen gelingender Partizipation von Kindern zu ermöglichen. Sie müssen eine Bereitschaft entwickeln, den Kindern in möglichst vielen Bereichen (Entscheidungs-)Freiheiten einzuräumen. Die Kinder müssen hier viel weniger lernen. Wenn der Prozess angemessen gestaltet ist, mischen sie sich in der Regel hochkompetent ein und sind begeistert von diesen Möglichkeiten. Solche positiven Erfahrungen bestärken dann auch die Pädagog*innen die Demokratisierung der Kita voranzutreiben. Dieser Prozess ist aber ein dauerhafter und umfassender. Auch am Erhalt und der Weiterentwicklung der „großen“ Demokratie müssen wir schließlich ständig arbeiten.

 

Wo können sich Kindertagesstätten Unterstützung und Impulse bei diesem Prozess holen?

Rüdiger Hansen: Wir haben knapp 360 Multiplikator*innen für Partizipation und Engagement-Förderung qualifiziert. Viele von ihnen arbeiten auch trägerübergreifend und sind damit gute Ansprechpartner bei allen Fragen rund um die Demokratisierung der eigenen Kita. Eine Liste finden Sie auf unserer Homepage.

 

Sie sprachen schon von einem Paradigmenwechsel. Wie stark ist das Thema Partizipation in der Ausbildung an Fach- und Hochschulen angekommen?

Rüdiger Hansen: Ich kenne dazu kaum Untersuchungen. Meine Antwort basiert also nur auf den Rückmeldungen aus der Praxis. Und die sind sehr unterschiedlich. An manchen Fach- oder Hochschulen ist Partizipation ein zentrales Ausbildungsthema. Andere Fachkräfte kommen aus der Ausbildung und können mit dem Thema noch wenig anfangen. Grundsätzlich ist aber Partizipation ein Teil des Curriculums der Erzieher*innen-Ausbildung. Schließlich gibt es für die Kinder- und Jugendhilfe eindeutige gesetzliche Vorgaben. Wie intensiv das Thema aufgegriffen wird, hängt aber offensichtlich stark von den einzelnen Schulen und Lehrkräften ab. 

 

Kommen wir nochmal zurück auf die Kinder. Gibt es eine „Altersgrenze“, ab wann sich Kinder beteiligen können? 

Rüdiger Hansen: Nein, Partizipation kann mit der Geburt beginnen. Ich bin gerade wieder Großvater geworden und erlebe sehr anschaulich, wie stark ein Baby seinen Unmut kundtun kann. Hunger, Müdigkeit, volle Windel, Wunsch nach Nähe – um das auszudrücken, braucht es keine Worte. Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, in der Interaktion rauszufinden, was die Kinder mitteilen wollen und darauf angemessen zu reagieren. Was ich damit sagen will: Kinder sind schon früh in der Lage, ihren Willen zu äußern. Es ist an uns als Pädagog*innen oder Eltern auf diese Äußerungen einzugehen. Bei älteren Kindern wird das natürlich durch die zunehmende Sprachfähigkeit immer leichter. Wir sind jedenfalls in all den Jahren, in denen wir uns mit Partizipation beschäftigen, noch nie an die Grenzen der Kinder gestoßen; aber wir stoßen ständig an die Grenzen der Erwachsenen, die Partizipation nicht wollen oder nicht können. 

 

Gibt es Faktoren die Partizipation im Kita-Alltag erschweren? 

Rüdiger Hansen: Ich glaube nicht, dass es irgendwelcher äußeren Voraussetzungen bedarf, um Kinder zu beteiligen. Ich bin sogar davon überzeugt, dass die Beteiligung der Kinder es erleichtert, auch mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Aber natürlich erschwert es Beteiligung, wenn eine Erzieherin allein für 25 Kinder zuständig ist. Wie soll sie den Kindern unter solchen Umständen ermöglichen, verschiedenen Interessen nachzugehen, und gleichzeitig ihrer Aufsichtspflicht nachkommen? Da bleiben kaum Räume für Aushandlungsprozesse. 

Ein anderes Problem ist, dass es den Kita-Teams an Zeit mangelt, ihr pädagogisches Handeln miteinander ausführlich zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Wenn sich eine Kita demokratisieren möchte, dann müssen die Selbst- und Mitbestimmungsrechte, die den Kindern zugestanden werden, von allen Fachkräften geachtet werden. Dazu müssen sie über diese Machtabgabe ausführlich diskutieren und die Rechte der Kinder im Konsens verabschieden. Dennoch werden sich in der Umsetzung immer wieder neue Fragen ergeben, und es braucht Zeit für die immer weitergehende Auseinandersetzung mit Partizipation und Demokratie, für eine aktive Diskussionskultur unter den Kolleg*innen. Leider steht den Fachkräften genau dafür viel zu wenig Zeit im stressigen Kita-Alltag zu Verfügung. 

 

Wo liegen die Grenzen der Partizipation?

Rüdiger Hansen: Die Sicherheit der Kinder sollte immer vorgehen. Kleine Kinder können zum Beispiel die Gefahren von UV-Strahlen nicht einschätzen. Deshalb müssen die Erzieher*innen dafür sorgen, dass sie eingecremt werden oder schützende Kleidung tragen. Darüber können sie die Kinder nicht allein entscheiden lassen. Für solche Grenzen braucht es aber immer eine gute Begründung. Viele andere Grenzen entstehen aus meiner Sicht eher im Kopf der Erwachsenen. Ich habe noch nie erlebt, dass Kinder so lange barfuß durch den Schnee laufen wollen, bis sie Erfrierungen davontragen. Sie essen auch nicht dauerhaft nur noch Süßigkeiten. Sie testen zwar meist aus, ob die Erwachsenen es ernst meinen, dass sie nun plötzlich selbst entscheiden dürfen, was sie essen wollen; aber nach wenigen Tagen, wenn sie Vertrauen in ihre neuen Rechte gewonnen haben, ernähren sie sich in aller Regel recht ausgewogen. Ich habe ein großes Vertrauen in die Kompetenz von Kindern, gut für sich selbst zu sorgen. Dieses Vertrauen ist gewachsen, weil ich erlebt habe, wie Kinder die Freiräume genutzt haben, die Erwachsene ihnen eingeräumt hatten. Ich hoffe, dass das auch viele Fachkräfte in Kitas erleben können. Und natürlich gibt es auch Grenzen, wenn die eigene Freiheit die Freiheit von anderen berührt. Aber Partizipation in der Kita bedeutet schließlich nicht, dass alle Kinder machen, was sie wollen und plötzlich über die Erwachsenen bestimmen, sondern dass faire Aushandlungsprozesse zwischen allen Beteiligten stattfinden. Und das ist viel schwerer, als alles von oben herab zu bestimmen oder die Kinder machen zu lassen, was sie wollen. Aber ich sehe keine sinnvolle Alternative zu dem beschwerlichen Weg der Demokratie – auch in der Kita.

 

Über den Gesprächspartner

Rüdiger Hansen ist Diplom-Sozialpädagoge und Vorstandsmitglied im Institut für Partizipation und Bildung in Kiel. Er leitete mehrere Modellprojekte zum Thema Partizipation in Kindertageseinrichtungen und ist freiberuflich in der Fortbildung von pädagogischen Fachkräften tätig.

Das Institut für Partizipation und Bildung ist ein eingetragener, gemeinnütziger Verein und anerkannter Träger der freien Jugendhilfe. Ziel ist die Förderung und Ausweitung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in Schule und Kommune. Die Expert*innen entwickeln, erproben, erforschen, vermitteln und verbreiten daher geeignete Wege der demokratischen Beteiligung von Kindern und Jugendlichen.

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