Gastbeitrag: Musikalische Vielfalt in der Kita

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Von Rock-Entchen und fiebernden Bibern

Das Ziel des folgenden Artikels ist ein Plädoyer für eine Stärkung des Selbstwertgefühls der Erzieher*innen hinsichtlich des vielfältigen Einsatzes von Musik in der Kita. Darüber hinaus werden mögliche Veränderungen des Berufsbilds in den Blick genommen. Dieser Text soll Erzieher*innen Mut machen, ‚mehr‘ in der Kita zu musizieren, auch wenn sie glauben, dass sie das nicht können oder dazu nicht genug/richtig ausgebildet sind …

Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf das Buch Musik in der Kita (Oberhaus 2020); Teile davon sind auch unter bestimmten Schwerpunkten in Einzelveröffentlichungen publiziert worden; zum Teil auch online (Oberhaus & Eller 2018). Während dort zwei Projekte zur Zusammenarbeit mit Erzieher*innen und Künstler*innen ausgewertet wurden, soll hier als persönlicher Erfahrungsbericht dargestellt werden, wie es zu diesen Forschungen kam. Ich schreibe – wie der Kinderzeit-Redakteur Birk Grüling – als ‚schreibender Papa‘ und bin mir der besonderen Bedeutung dieser Doppelrolle (hoffentlich) voll bewusst… Die Darstellung erfolgt daher aus der Ich-Perspektive.

Erfahrungsbericht zum Stellenwert von Musik in der Kita

Ich glaube es mag Anfang 2012 gewesen sein, als ich meine beiden Kinder von der Kita abholte. Dort hörte ich, wie mehrere Kinder zu der Musik We will rock You (Queen) zum Text von Alle meine Entchen sangen. Im Kita-Raum sah ich begeistere Kinder und auch eine Erzieherin, die mit den Händen auf den Knien den Rhythmus mit einigen Kids einübte. Auf den ersten Blick dachte ich: alles o.k., die Kinder singen (zu einem deutschen) Text, verbinden Musik und Bewegung und haben Freude an der Musik. Als ausgebildeter Musiklehrer (allerdings für die Sekundarstufe I/II) war ich dennoch irritiert über diese ungewöhnliche Musik/Text-Kombination, da diese nicht unbedingt mit meinen Erwartungen übereinstimmte, die ich im Rahmen meines Studiums kennengelernt habe. Bei meiner Recherche zu Hause bin ich dann darauf gestoßen, dass es sich nicht um eine spontane Idee der Erzieherin handelte, sondern der Song von Frank und seinen Freunden stammt, der mit Rockentchen (We will rock you) bekannt geworden ist.

Im Anschluss an dieses Erlebnis erfolgten dann Gespräche mit mehreren Erzieherinnen, die mir zunächst von ihren Erfahrungen berichteten und zudem auf den geringen Stellenwert von Musik in ihrer Ausbildung hinwiesen. Dabei hatte ich auch Gelegenheit das Instrumentarium in der Kita anzuschauen und war entsetzt, dass dort kaum (funktionierende) Instrumente vor Ort waren; selbst die Möglichkeit CDs abzuspielen, war nicht gegeben.

Einige Monate später wurde ich zur Kita-Abschlussfeier vor den Sommerferien eingeladen. In der gefüllten Turnhalle standen zahlreiche Eltern, die fast alle ihr Handy in die Luft hielten, um ihre Kinder bei der Aufführung von Liedern zu filmen. Allerdings war das Lied (Meine Biber haben Fieber) kaum zu erkennen: Die Kinder grölten.

Mein letztes Erlebnis steht in Bezug zur Bildungspolitik. In den letzten Jahren wurde im Wahlkampf der hohe Stellenwert frühkindlicher Bildung hervorgehoben und es gab parteipolitische Stellungnahmen, die forderten, dass die berufliche Situation von Erzieherinnen verbessert werden muss. Dabei wurde auch auf die Bedeutung künstlerischer Fächer verwiesen. Solche bildungspolitischen Themen wirken sich auch auf die Wissenschaft in Form von Forschungsprojekten aus, in denen dann eine Untersuchung zum Stand von z. B. „Musik in der Kita“ durchgeführt wird. Vor diesem Hintergrund ergab sich dann – mehr oder weniger zufällig – die Möglichkeit, zusammen mit dem Landesverband Niedersächsischer Musikschulen zwei Projekte zu konzipieren, durchzuführen und auszuwerten, in denen Erzieher*innen mit Musiker*innen zusammengearbeitet haben. Hieraus ist dann das oben erwähnte Buch Musik in der Kita entstanden.

Auf dem ersten Blick klingen diese Ausführengen vielleicht besserwisserisch, abwertend und zu negativ. Ich möchte an dieser Stelle überhaupt gar nicht über die Situation der Ausbildung von Erzieher*innen klagen. Dazu gibt es bereits zahlreiche Studien. Vielmehr ist es wichtig, sich über ambivalente oder widersprüchliche Haltungen bewusst zu werden, die ‚in die Kita‘ hineinprojiziert werden, insbesondere dann, wenn es um Musik und Kinder geht. Ich möchte daher nun in einem nächsten Schritt diese eher biographischen Erfahrungen aus wissenschaftlicher Sicht kommentieren.

Wissenschaftliche Zusammenhänge und Begründungen

Geringer Stellenwert von Musik in der Erzieher*innenausbildung – Boom von Musik-Weiterbildungen

Das Fach Musik spielt in der Ausbildung der Erzieher*innen eine untergeordnete Rolle (Janssen 2011). In den Curricula und Modulen nimmt das Fach Musik keinen Raum ein. Es steht oft im Kontext unklarer übergeordneter Begriffe, wie ‚Musisch-rhythmisches Gestalten‘. Konkrete musikbezogene Vermittlungsweisen in der Ausbildung sind wenig bis gar nicht vorhanden, so dass die Absolvent*innen unzureichend auf die musikpädagogische Praxis in der Kita vorbereitet sind, zumal das Erlernen eines Instruments „nur teilweise bis eher gar nicht im Lehrangebot verankert“ (Brinker et al. 2010, 9) ist und es unklar bleibt, wer diese Module unterrichtet. Anstatt die Ausbildung der Erzieher*innen zu reformieren, haben in den letzten Jahren Weiterqualifizierungen für frühpädagogische Fachkräfte zunehmend an Bedeutung gewonnen. So sinnvoll das Angebot auch sein mag, darf nicht vergessen werden, dass nur diejenigen Erzieherinnen eine Fortbildung besuchen, die eine Affinität zur Musik besitzen und grundlegende Fähigkeiten bereits mitbringen (Oberhaus & Nonte 2016).

Musikunterricht in der Kita findet oftmals in Kooperation mit Musikschulen statt. Dabei ist die so genannten Elementare Musikpädagogik (EMP) zuständig für die Musikalisierung der Kinder. Es gibt aber nur sehr wenige ausgebildete EMP-Lehrkräfte, so dass der große Bedarf seitens der Erzieherinnen nicht gedeckt werden kann. Folglich unterrichten in der Kita oftmals Autodidakten oder Instrumentallehrkräfte, die wenig Kenntnisse im Umgang mit der Kinderstimme besitzen.

Stellenwert von Musik in der Kita

Auch wenn in der Kita fast täglich gesungen wird, fehlen ein fundierter Umgang mit der Stimme und regelmäßige Gesangsangebote, die über besondere Anlässe (Geburtstag, Abschlussfeier) hinausweisen. Einige Studien verdeutlichen, dass in der Praxis potenziell schädliche und ungesunde Umgangsweisen vermittelt werden (Brünger 2003). Hierzu gehören das zu tiefe Singen in der Bruststimme mit zu viel Druck. Ein Grund für die falsche bzw. fehlende Vermittlungspraxis liegt neben der geringen technischen Stimmtechnik auch an der Dominanz bestimmter Gesangspraktiken in der Populären Musik (hohes Singen in der Bruststimme v.a. bei Frauen). Potenzielle Folge sind schlimmstenfalls Fehlentwicklungen der Kinderstimme und ein atypischer Stimmklang (Heiserkeit zwischen 46-65% bei 4 bis 6-Jährigen, die nur 22% der Eltern aufgefallen ist). Hinzu kommt, dass durch familiäre Veränderungen sich der Tonumfang gravierend verkürzt und das Repertoire verändert hat (auch durch Liedermacher wie z.B. Rolf Zuckowski). Singen und Musizieren „als erste Stufe zur Heranführung an die Musik“ (Goppel 2014, 6) sind in Familien nicht mehr selbstverständlich.

Transfereffekte

Auffallend widersprüchlich zur Geringschätzung des Faches Musik in der Ausbildung und zum Stellenwert in der Familie wird in bildungspolitischen Programmen und wissenschaftlichen Studien auf die immense Bedeutung musikalischer Bildung abgehoben. Das betrifft insbesondere die Wirkungen, die mit der ‚Kraft der Musik‘ in Verbindung stehen. Diese so genannten Transfereffekte beziehen sich auf die verbesserte kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, Sozialverhalten und emotionale Kompetenzen (Gruhn & Rauscher 2007). Aufgrund anderer Einflussfaktoren sind die Zusammenhänge allerdings nicht ganz sicher nachweisbar. Zudem erscheint es bedenklich, dass der Stellenwert von Musik in der Kita weniger über die Musik selbst (als Bildungsgut), sondern über außermusikalische Aspekte begründet wird (v.a. Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung). Problematisch sind über die parteipolitische Funktionalisierung der frühkindlichen (musikalischen) Bildung auch weitreichende kommerzielle Werbekampagnen, wie z.B. das Projekt Klasse wir singen, das großzügig von der Firma Rossmann unterstützt wird. Auch hier geht es um Prestige und Werbung, da mit singenden Kindern viel Aufmerksamkeit erreicht wird.

Singende Kinder

In diesem Kontext muss auch berücksichtigt werden, dass oftmals vom ‚spielenden Kind‘ aus argumentiert bzw. mit dieser Metapher gearbeitet wird. Hintergrund ist, dass der Begriff Kind für etwas Natürliches und Heiliges steht, das sich im Spiel selbst vergisst. Diese Idealisierung der kindlichen Unschuld und der Drang des Kleinkindes zur Selbstentfaltung ist eine romantische Leitidee der Pädagogik des 18. Jahrhunderts und findet sich in der Literatur zum kindlichen Lernen (Schiller, Rousseau). Dieser Kindbegriff hält sich bis heute und hat wiederum großen Einfluss darauf, wie Musik überhaupt in der Kita vermittelt werden soll. Der Lernvorgang soll ‚kindgerecht‘ erfolgen, so dass Kinder als entdeckende Forscher aktiv sind, um explorativ am Material zu lernen (z.B. Musik mit Alltagsgegenständen, Tanzen mit Tüchern, Singen mit Bewegungsgesten). Die Behutsamkeit des Umgangsmit Kindern hat zur Folge, dass Musik in der Kita als ‚Schonraum‘ eingesetzt wird und auf bestimmte ‚Mythen‘ zurückgreift, wozu insbesondere die Begriffe ganzheitlich, kreativ, elementar und kindgemäß zählen. Die oben beschriebene Aufführung mit den grölenden Kindern verdeutlicht, dass das Event nicht nur dazu da ist, die Musik zu hören. Es geht vielmehr um ‚Kinder auf der Bühne‘, die Erwachsenen etwas auf der Bühne (musikalisch) präsentieren.

… was daraus folgt

Wie bereits oben angeführt, ist es aufgrund der Ausgangsbedingungen sehr schwer etwas zu verändern, da die einzelnen Strukturen sehr festgefahren sind. Es fühlt sich auch niemand konkret für ‚Musik in der Kita‘ verantwortlich, da alle Beteiligten den schlechten Zustand implizit akzeptieren und der Musikunterricht immer noch für viele erst in der Grundschule beginnt. Bei meinen Anfragen auch beim Ministerium bin ich letztlich vor verschlossenen Türen gelandet oder wurde an diejenigen Personen weitergeleitet, mit denen ich bereits in Kontakt stand. Ein Teufelskreis …

Zwei Wege zum ‚Umdenken‘

Ein aus meiner Sicht erster wichtiger Schritt ‚raus aus dem Teufelskreis‘ könnte durch eine veränderte Selbstwahrnehmung und Selbsthaltung der Erzieherinnen erreicht werden. In zahlreichen Interviews haben mir Erzieher*innen zu Beginn mitgeteilt, dass sie nur geringe Vorerfahrungen mit Musik besitzen und nicht musizieren können. Je intensiver diese Personen dann im Verlauf von ihrer Praxis berichteten, wurde deutlich, dass sie ‚für Musik brennen‘ und leidenschaftlich Musik vermitteln. Die negativen Selbstbeschreibungen stimmen also nicht mit dem tatsächlichen musikalischen Stärken überein. In dem oben angeführten Projekt, in dem Erzieher*innen mit Musiker*innen zusammengearbeitet haben, wurde deutlich, dass sich in der Zusammenarbeit die Haltung und die eigene Sichtweise auf den eigenen Beruf verändert. Erzieher*innen wurden v.a. wegen ihrer Spontaneität und Fähigkeit zur Improvisation (seitens der Musiker*innen) geschätzt.

Zweitens sollte überlegt werden, ob nicht durch den gesellschaftlichen Wandel, der auch die Welt der Kinder betrifft, alternative Musikangebote denkbar wären, die über das thematische Spektrum der EMP hinausweisen und einen weiten Musikbegriff aufgreifen, der auch die Vielfalt der Menschen bzw. Kindheiten (im Plural) mit berücksichtigt. Ziel wäre die Überwindung des oben beschriebenen Schonraums in der Kita und die Etablierung übergeordneter Projekte mit Kunst- und Kulturschaffenden. So wäre es auch möglich, mit Ipads zu musizieren oder eine/n Komponisten/Komponistin in die Kita einzubinden.

Persönliches Fazit …

Es ist wahrscheinlich, dass auch diese ‚Klage‘ – die gar keine sein soll – im Raum verhallt, ohne dass sich etwas verändert. Tragisch an der gesamten komplexen Situation erscheint, dass viele Beteiligten die schlechte Musikausbildung der Erzieher*innen akzeptieren und es um übergeordnete Diskurse geht, die abseits der Musik geführt werden. Provokanter formuliert: es gibt spezifische Interessen, die von der schlechten Ausbildungssituation der Erzieher*innen bzw. von der maroden Situation von Musik an der Kita profitieren, zumal auf bestimmte Wertkonzepte angespielt wird, die sich nicht leicht ‚aus den Köpfen‘ vertreiben lassen.

Über den Autor

Lars Oberhaus studierte Musik und Philosophie in Detmold und Paderborn. Nach Referendariat und Schuldienst war er als Juniorprofessor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten tätig. Seit 2012 ist er Professor für Musikpädagogik am Institut für Musik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Literatur

Brünger, Peter (2003): Singen im Kindergarten. Eine Untersuchung unter bayerischen und niedersächsischen Kindergartenfachkräften, Augsburg: Wißner.

Brinker, Patricia; Cloos, Peter; Oehlmann, Sylvia (2010): Musikalische Bildung in der Qualifizierung fürKindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen. Kurzdarstellungen der Ergebnisse http://www.miz.org/downloads/dokumente/559/studie_bertelsmann_kindertages-einrichtungen.pdf (14.11.2018).

Goppel, Thomas (2014): Vorwort des Bayrischen Musikrats, in: Michael Dartsch (Hg.): Musik im Vorschulalter. Dokumentation Arbeitstagung 2013, Kassel: Bosse, S. 6-7.

Gruhn, Wilfried; Rauscher Frances H. (2007) (Hg.): Neurosciences in Music Pedagogy, New York: Nova Science.

Heye, Andreas; Forge, Stephanie; Peters, Corinna; Gembris, Heiner (2015): Evaluation des Projekts Musik im Kita-Alltag (MiKA). Abschlussbericht. Bertelsmann Stiftung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/MIKA_Evaluation_ Weiterbildung_2015_final_kurz.pdf. (14.02.2018).

Janssen, Rolf (2011): Die Ausbildung Frühpädagogischer Fachkräfte an Berufsfachschulen und Fachschulen. Eine Analyse im Ländervergleich. München: WiFF.

Oberhaus, Lars; Nonte, Sonja (2016): Inklusion in der frühkindlichen musikalischen Bildung. Kooperationspotenziale zwischen Erzieherinnen und musikpädagogischen Fachkräften in der Kita, in: Anne Niessen und Jens Knigge (Hg.): Musikpädagogik und Erziehungswissenschaft, Münster: Waxmann, S. 73-88.

Oberhaus, Lars, Eller, Ragnhild (2018): Verschleierte Blicke durch rosarote Brillen. Berufs- bezogene Rollenzuschreibungen in einer berufsfelderweiternden Qualifizierung zur Zusammenarbeit von Musiker-Erzieher-Tandems in der Kita, in: Kulturelle Bildung Online https://www.kubi-online.de/artikel/verschleierte-blicke-durch-rosarote-brillen- berufsbezogene-rollenzuschreibungen-einer (10.11.2018)

 Oberhaus, Lars (2020). Musil der Kita – inklusiv und kooperativ. Evaluation von Tandemarbeit im Bereich frühkindlicher musikalischer Bildung, Münster: Waxmann

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