Wie Sie Kinder stark machen

Selbst gemachte Erfahrungen fördern die Entwicklung

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Kinder stärken und sie in ihrer Entwicklung unterstützen. Das ist der Weg, Kinder körperlich, geistig und seelisch zu erziehen. Bewegung und selbst gemachte Erfahrungen sind wichtige Vorraussetzungen, damit Kinder zu starken Persönlichkeiten werden, die sich nicht in Angst, Gewalt oder Sucht flüchten.

Erzählen Erwachsene über ihr Leben und blicken dabei auf ihre Kindheit und Jugend zurück, wird es immer dann besonders spannend, wenn es um Erlebnisse geht, bei denen sie Erfahrungen sammeln konnten, die weit über den Augenblick hinaus für sie von Bedeutung waren.

Kindheitserfahrungen können ein ganzes Leben prägen.

Ein bekannter Kinder- und Jugendpsychiater sieht es als wichtigen Grund für seine spätere Berufswahl an, sich einmal gegen die ganze Klasse für seinen zu Unrecht bedrängten Freund eingesetzt und dann zu zweit dem Ansturm der Mitschüler standgehalten zu haben. Mit dem Ergebnis, dass der Ansturm sich angesichts zweier offensichtlich unerschütterlich Verbündeter in Luft auflöste. „In dieser Situation habe ich viel über Aggression und Angst gelernt. Wie oft habe ich später an diese Minuten gedacht und immer wieder gespürt, welche Gefühlswechsel von Wut über Angst bis zu höchster Siegesbefriedigung ich damals empfunden habe. Dieses Erlebnis habe ich als Erfolg verbucht – als echte Stärke – und es hat mich geprägt. Es hat mich bei anstehenden Entscheidungen und Reaktionen immer wieder nach dieser Stärke in mir suchen lassen. Denn dass sie da ist, das weiß ich seit damals.“

Aktiv Erfahrungen zu sammeln und sie, wenn es darauf ankommt, als Wissen und Fähigkeiten zur Verfügung zu haben – das ist eine wesentliche Voraussetzung, um auf Anforderungen vorbereitet zu sein. Das bedeutet im Alltag nichts anderes, als sich nicht schnell verunsichern oder einschüchtern zu lassen und jede Gelegenheit, sich zu beweisen, wahrnehmen und nutzen zu können.

Kevin (5 Jahre alt) war erst vor wenigen Wochen mit seinen Eltern in eine neue Wohngegend gezogen. Obwohl zwei der Nachbarskinder mit ihm in denselben Kindergarten gingen, hatte er beim Spiel auf der Straße noch keinen richtigen Kontakt gefunden. Als die Kinder eines Nachmittags auf jeder Baumscheibe auf dem Bürgersteig einen dicken Belag grob geschredderter Rindenstücke vorfanden, war Kevins Stunde gekommen. Dank seiner Erfahrungen mit Treibholzstückchen am Strand konnten die Kinder unter seiner Regie mit größtem Vergnügen eine Hafenanlage mit Schiffen bauen und stundenlang spielen. Einer seiner Kindergarten-Kameraden begleitete Kevin gegen Abend nach Hause. „Ich will mal sehen, wo deine Klingel ist. Sollen wir morgen im Kindergarten draußen zusammen spielen?“

Wer schon früh Anforderungen meistert, ist auf spätere Anforderungen vorbereitet.

Kevin kam in die Gruppe rein, weil er eine Idee hatte und diese offensichtlich geschickt unter die Kinder brachte. Das hat ihm die Eingliederung erleichtert – sicher nicht nur die akut anstehende, sondern auch die nächste und die übernächste. Denn Kevin wird ähnliche Anforderungen nicht mehr als unüberwindbare Hürde ansehen.

Mit Anforderungen zurechtgekommen zu sein, schafft ein Sicherheitspolster, das in schwierigen Situationen – wenn überhaupt – viel seltener und dann auch erst viel später ausrasten und verzweifeln lässt.

Es ist gut zu wissen:

  • „Ich habe schon so viel geschafft, also schaffe ich das auch!“
  • „Ich weiß mir zu helfen, notfalls hole ich mir Hilfe!“
  • „Ich kenne mich!“
  • „Ich kann mich auf mich verlassen!“

Aktiv Erfahrungen sammeln ist eine Sache – Erfahrungen sammeln können und dürfen die andere. Die Dinge unserer Umgebung schaffen „Lebensbedingungen“. Was einen großen oder kleinen Menschen umgibt, beeinflusst sein Leben. Damit ist nicht nur das Haus gemeint, in dem er wohnt, mit seiner Ausstattung und mit den anderen Grundstücken und Gebäuden in nächster Nähe oder die Straße und die Stadt, in der dieses Haus steht. Damit sind auch die Aktivitäten gemeint, die dieser Lebensraum zulässt, die Kontakte, die dort zu anderen Menschen möglich sind. Handelt es sich dabei um Angebote, mit denen Kinder etwas anfangen können, mit denen sie groß werden können?

Der Lebensraum unserer Kindheit beeinflusst unser Leben.

Sich frei bewegen und spielen – zwei Erfahrungsschatzkisten, die während der Kindheit gefüllt werden können.

Sich bewegen: Lust pur

„Bewegt es sich?“ fragen Kinder aufgeregt, wenn sie ein kleines Tier am Boden finden. Denn wenn es sich bewegt, lebt es. Bewegung – das bedeutet Leben und Aktivität. Die Kindsbewegungen sind für die werdende Mutter die ersten, eindeutig wahrnehmbaren Signale ihres Kindes. In den Armen von Mutter oder Vater gewiegt zu werden stillt das Kontaktbedürfnis und vertreibt die Verlassenheitsangst des Säuglings. Selbstverständlich verschafft sich ein gesundes Kind schon im Säuglingsalter selbst Bewegung. Mit der eigenen Hand etwas bewirken zu können, sich etwas herbeiholen oder vom Leib halten zu können, darf zu den ersten großen Erfolgserlebnissen gezählt werden.

Menschen haben eine starke Motivation, sich zu bewegen. Worte wie „Bewegungsfreude“, „Bewegungslust“ oder „Bewegungsdrang“ zeugen davon. Kinder müssen sich bewegen. Nicht weil Erwachsene Bewegung für gesund und für pädagogisch wichtig halten, sondern weil Kinder sich bei und nach motorischer Aktivität wohlfühlen, befriedigt und bereit für neue Aktivitäten sind. Plötzlich können sie wieder konzentriert nachdenken, vertieft lesen, auf andere zugehen und aufkommende Langeweile mit Ideen besiegen.

Bewegung bedeutet Leben und Aktivität.

Jede motorische Aktivität lässt Kinder mehr über ihren Körper erfahren, über seine Beweglichkeit und seine sich durch Wachstum und Übung verändernden Möglichkeiten. Ein ungestörter Entwicklungsablauf braucht Bewegungsanreize, hat Bewegungsvielfalt eingeplant. Deshalb wird Springen, Rennen, Sich-Drehen, Hüpfen und Schaukeln als schön, spannend und lustvoll empfunden.

Viel Bewegung macht körperlich und geistig beweglich

Dieser körpereigene Belohnungseffekt hat seinen Grund: Während all dieser Bewegungsabläufe formen und verknüpfen sich Neuronenmuster in den verschiedenen Gehirnarealen und werden durch Üben stabiler. Kaum jemand weiß, dass beim Klettern, Malen, Nussknacken, Balancieren, Fußballspielen und Tanzen großteils dieselben Schaltstellen gebahnt werden, die auch beim Sprechen, Rechnen, Lesen und Nachdenken in Aktion sind. Je häufiger sie alle aktiviert sind, desto stärker und leistungsfähiger werden die Verschaltungen. Das bedeutet: Man „schaltet“ also auch geistig schneller und besser.
Viele Bewegungserfahrungen lassen also körperlich und geistig beweglicher werden. Zuerst einmal motiviert Kinder die reine Bewegungsfreude selbst. Dann wird der Vergleich verlockend, wer von den anderen Mädchen und Jungen auch so schnell laufen, so weit springen oder bei den tollkühnsten Kletterpartien mithalten kann – und mit wem es am meisten Spaß macht, sich zu messen und auszupowern. Erst viel später – meist auch von außen angeregt – geht es um in Metern und Sekunden messbare Leistung. Der wahre Erfahrungsschatz, der für die kindliche Entwicklung relevant ist, liegt auf den ersten beiden Stufen.
Kinder mit Bewegungsdefiziten reagieren alarmierend, denn sie sind arm dran. Ihre Reaktionen sind Notsignale der Natur, damit der schnell gefährlich  werdende Bewegungsentzug, der den ganzen Erregungshaushalt durcheinanderbringt, nicht noch länger anhält.
Mittlerweile verstehen viele Fachleute diese vehementen Hilferufe richtig und können den Eltern beim Übersetzen helfen. Die Botschaft der Kinder heißt:

„Lasst uns draußen toben,damit es nicht drinnen in uns wütet!“

Krach machen und Bewegung sind für Kinder oft eng gekoppelt. Lärm und Bewegung sind starke Ausdrucksmittel, mit denen man ein Revier abstecken und etwas Eindrucksvolles unüberhörbar und unübersehbar produzieren kann. Wer regelmäßig im Freien toben darf, dem fällt es auch leichter, drinnen leiser zu spielen. Denn diese Ausdruckskomponente ist als Kontrast dann auch wieder spannend.

Kleinkinder besiegen Zehnkämpfer.

Kinder wollen sich bewegen. Beobachten Sie einmal in der Reisezeit, wie die Kinder auf den Rastplätzen aus den engen Autos purzeln. Sie explodieren fast. Kein Körperteil will unbewegt bleiben. Bewegungsabläufe im Übermaß sind angesagt – keineswegs alle dafür gedacht, sich in kürzester Zeit von Punkt A nach Punkt B zu bewegen. Sondern einfach nur mit dem Zweck und Ziel, beweglich zu sein. Erst wenn sie sich ein bisschen ausgetobt haben und atemlos geworden sind, sind Kinder wieder auf andere Bedürfnisse ansprechbar: Erst dann nehmen sie wieder wahr, dass sie hungrig oder durstig sind oder Pipi machen müssen.

Die Bewegungsressourcen eines Kleinkindes sind beeindruckend. Seine kurzfristige Regenerationsfähigkeit lässt Erwachsene geradezu neidisch werden. Seit einem Test in den 70er Jahren wissen wir, dass ein trainierter Zehnkämpfer nur etwa vier Stunden lang in der Lage ist, die körperlichen Aktivitäten drei- bis vierjähriger Kinder mitzumachen. Danach ist er geschafft – während die Kinder immer noch, von kurzen Pausen unterbrochen, weiter agieren können, wollen und müssen. Kinder leiden, wenn ihr altersgemäßer Bewegungsdrang unterdrückt wird. Am meisten, wenn sie womöglich für mobile Aktivitäten auch noch mit Bewegungs- und Liebesentzug bestraft werden.
Diesen Kindern widerfährt Schlimmes, sie werden motorisch depriviert. Das heißt: Sie werden einer für ihren Entwicklungsverlauf wichtigen Erfahrungsmöglichkeit beraubt. Dagegen revoltieren sie lautstark, setzen sich mit Händen und Füßen zur Wehr, sobald sie festgehalten werden, still sitzen müssen und nicht rumrennen dürfen. Ruhe wird zum verhassten, gefürchteten Zustand, der – wenn man Glück hat – über einen aufwändigen Umweg nach Jahren wieder zu etwas Erstrebenswertem werden kann.
Aggression ist die erste Reaktion auf diese verhinderte Triebbefriedigung. Völlig gerechtfertigt begehrt ein Kind gegen diese folgenschweren Einschränkungen auf. Doch auf den ersten Blick sieht sein Verhalten zunächst einmal nur böse und ungezogen aus. Das Kind gefährdet andere – oft auch sich selbst –, bis endlich jemand den wahren Grund für diese extremen Reaktionen erkennt und sich die Mühe macht, die zugrunde liegenden Zusammenhänge zu verstehen – und dann noch für Änderung sorgt.

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:

Stark von Anfang an
Kinder auf dem Weg zur Resilienz begleiten
Haug-Schnabel, Gabriele
Schmid-Steinbrunner, Barbara
Oberstebrink
ISBN: 9783934333451
20,00 €

Mehr dazu auf www.oberstebrink.de



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