Unsichtbare Freunde. Wie gehen wir mit Phantasiegefährten um?
Phantasiegefährten sind unsichtbare, nur in der Vorstellung vorhandene und für andere Personen unzugängliche Begleiter von Kindern. Die Kinder haben eine positive Beziehung zu ihnen. Gibt es bestimmte soziale, familiäre oder psychische Situationen, in denen Kinder unsichtbare Freunde suchen? Sind Phantasiegefährten gefährlich? Norbert Neuß, Professor für »Pädagogik der Kindheit« an der Universität Gießen, gibt Auskunft.
Von Norbert Neuß, März 2012Phantasiegefährten sind Freunde, Beschützer und Verbündete, die das Kind eine Zeit lang begleiten. Sie treten innerhalb der Spiele und Gespräche der Kinder hervor und beanspruchen ihre eigene Realität. Wenn ein Kind einen unsichtbaren Freund gefunden hat, tritt dieser, wie bei einer Fortsetzungsgeschichte, immer wieder mal in Erscheinung. Dabei kommen die unsichtbaren Figuren nur durch die Phantasie und Aktivität des Kindes zustande.
Mit dem Cabrio in eine andere Dimension
Leonie erinnert sich an ihre drei Phantasiefreunde noch genau, die sie zwischen ihrem dritten und sechsten Lebensjahr begleitet haben. Die Phantasiefreunde hatten die Gestalt von jungen Erwachsenen und spielten mit Leonie vor allem »Mensch-Ärgere-Dich-Nicht.« Ihre Mutter respektierte die Freunde und verteilte an alle beim Spielen Süßigkeiten. Die drei Freunde haben Leonies Alltag mitgestaltet.
Sie waren Teil von Leonies Symbolspielen und übernahmen die Rolle von Mutter, Vater und Kind. Leonie erzählt, dass sie die Freunde als schemenhafte Umrisse sah, die sich auch untereinander unterhielten. Leonie führte mit den Freunden auch Gespräche. Sie erzählte vom Kindergarten und wie sie dort Heiraten gespielt hat. Die Freunde haben sich dann mit ihr gefreut und wenn sie traurig war, haben sie Leonie getröstet. »Die haben mich dann in den Arm genommen und haben mir erzählt, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Das kommt schon wieder alles in Ordnung.«
An eine Besonderheit erinnert sich Leonie noch sehr genau. Auch nachts durften die Freunde bei ihr im Bett schlafen und wenn es dunkel wurde, fuhren sie zu viert regelmäßig mit einem unsichtbaren Auto durch das Fenster in eine Phantasiewelt. Das Phantasieauto war ein schnelles Cabrio. Mit ihm konnte man über die Bäume hinweg fliegen und den Sternenhimmel angucken. »Es war, als ob man in eine andere Dimension fuhr.«
Zu diesem Zeitpunkt, so erinnert sich Leonie, hatte sie fürchterliche Angst vor Monstern, unheimlich wirkenden Kuscheltieren und Dunkelheit. Die Schatten der Flurlampe sahen aus wie Krokodile und der große Teddybär hatte einen unheimlichen Schatten. Ihre Freunde beschützten sie aber und passten in der Nacht auf sie auf. In der Phantasiewelt war sie eine Prinzessin in einem Schloss, in dem getanzt wurde: »Es ist superschön, da gibt es keinen Ärger, man kann da machen, was man will, und es gibt keine Monster. Da sind auch keine anderen Erwachsenen, sondern nur wir vier. Das ist unser Rückzugsort.« Leonie führt ihre Phantasien auf die vielen Stunden zurück, in denen ihr Märchen vorgelesen wurden. Diese Vorstellungen ließen sie beruhigt einschlafen.
Zu ihrem Vater, der getrennt von Leonie und ihrer Mutter lebt, wurden die drei Begleiter aber nicht mitgenommen. Als Leonie zwei Jahre alt war, ließen sich die Eltern scheiden. Ohnehin waren die drei Begleiter nur in Leonies Zimmer aktiv – Leonie hat die Freunde nie irgendwo anders mit hingenommen. Leonie versuchte, ihre Freunde auch vor anderen zu verheimlichen. »Weil ich dachte, das ist doch nicht normal. Da kann ich mich noch dran erinnern. Das war mir wirklich unangenehm. Ich habe damals schon gedacht: ›Dann halten die mich für verrückt‹.« Die einzige, die davon wusste, war ihre Mutter, weil sie Vertrauen zu ihr hatte. Leonie beschreibt noch das damalige Verhältnis zu ihrer sieben Jahre älteren Schwester, die sie schon als Kind gehasst hat. Leonie empfand sich zu diesem Zeitpunkt als Störfaktor in der Familie.
Was sagen uns Leonies Phantasiefreunde?
Für ein vertieftes Verständnis dieser beispielhaften Geschichte können verschiedene Perspektiven behilflich sein. Psychoanalytiker würden danach fragen, welche unbewussten Konflikte oder Impulse durch die Phantasiefreunde bearbeitet werden. Eine solche Interpretation würde das Zusammenwirken von bewussten und unbewussten Prozessen beim Schaffen von Symbolen untersuchen. Im Beispiel Leonies stellt sich die Frage, ob die Phantasiefreunde aufgrund der familiären Beziehungen und der unbewussten Gefühlsimpulse angeregt wurden. Diese Frage ist nur schwer zu beantworten. Es fällt aber auf, dass Leonie sich drei Figuren schafft, mit denen sie harmonisch zusammenlebt, spielt, spricht und mit denen sie in eine paradiesische Welt entfliehen kann. In dieser harmonischen, angstfreien Welt steht sie im Mittelpunkt. Der Hinweis, dass Leonie mit den Phantasiefreunden Mutter-Vater-Kind spielt und dass sie im Kindergarten heiraten spielt, verstärkt den Eindruck der Sehnsucht nach einer harmonischen familiären Viererkonstellation. Vier Spielfiguren spielen »Mensch-Ärgere-Dich-Nicht«. Ist das ein Zufall? Wie viele andere Fallbeispiele zeigen, ist es eine durchaus gesunde und vitale Reaktion, die eigene emotionale Situation mit phantasievollen Lösungen zu bearbeiten.
Unsichtbare Freunde fordern eine pädagogisch begründete Haltung heraus, denn Kinder beziehen sie nicht selten in die Familie ein. Wie sollte man mit den Phantasiegefährten erzieherisch umgehen? Wie Eltern auf die unsichtbaren Freunde reagieren, hängt nicht nur von ihren Erziehungsstilen ab, sondern auch vom fachlichen Wissen über Entwicklungsthemen und Bewältigungsstrategien in der frühen Kindheit. Durch genaues Beobachten der unsichtbaren Freunde können Erwachsene sehr viel über das Kind erfahren. Dabei sind die Phantasiegefährten nicht selbst der Konflikt, sondern ein Indikator für einen Konflikt oder ein Entwicklungsthema. Dieses Verständnis sollte zu einem sensiblen Umgang mit den unsichtbaren Freunden in der Familie oder anderen pädagogischen Institutionen führen. Pädagogen und Eltern sollten die unsichtbaren Freunde akzeptieren und gewähren lassen, um die Entwicklung des Kindes nicht zu behindern.
Antworten auf die häufigsten Fragen zu Phantasiegefährten
1. Woher nehmen die Kinder solche Phantasien?
Phantasie und Vorstellungsaktivität sind grundlegende menschliche Eigenschaften. Ohne sie könnten wir uns nicht erinnern, nicht träumen, nichts wünschen und uns nicht in die Gefühlswelt eines anderen Menschen hineinversetzen. Die Entwicklung der Phantasie hängt eng mit der Sprachentwicklung und den psychosozialen Entwicklungsherausforderungen jedes einzelnen Kindes zusammen. Angeregt werden die Phantasiefreunde auch durch Medienfiguren und -geschichten.
2. Wie viele Kinder haben unsichtbare Freunde?
Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der Kinder unsichtbare Freunde haben. Sie treten vor allem bei Kindern im Alter von zwei bis vier Jahren auf. Insgesamt handelt es sich um ein unbedenkliches Ausdrucksphänomen, das weltweit bekannt ist. Dass diese Kinder einsam sind, ist nur eine von vielen möglichen Erklärungen.
3. Schadet das den Kindern? Muss ich mir Sorgen machen?
Die Erfindung eines unsichtbaren Gefährten ist eine anspruchsvolle Phantasieleistung. Diese Form der kindlichen Verarbeitung ist völlig normal und bietet wenig Anlass zur Sorge. Es ist sogar so, dass unsichtbare Freunde die Identitätsentwicklung von Kindern unterstützen. Während die Form (das »Wie«) unbedenklich ist, können aber die Inhalte der Verarbeitung (das »Was«) durchaus auf schwierige Situationen, Identitätskrisen, Entwicklungsaufgaben, Ängste und Fragen hinweisen.
Kinder mit Phantasiegefährten haben dadurch keine Nachteile. Sie fallen eher durch positive Eigenschaften auf: Sie sind sozial engagiert, phantasievoll, Neuem gegenüber aufgeschlossen und kommunikativ. Sie erleiden auch keinen Realitätsverlust, sondern ihr Alltag wird durch die Phantasiefreunde bereichert.
4. Warum schaffen sich Kinder unsichtbare Freunde?
Wie das Beispiel von Leonie andeutet, übernehmen Phantasiefreunde für ihre Erfinder unterschiedliche Aufgaben: Sie sind für Kinder Mutmacher, Kummerkasten, Ausreden-Erfinder, Spielgefährten, Wunscherfüller, Tröster, Glücksbringer, verlässliche Begleiter und Gesprächskameraden. In unsichtbaren Freunden zeigt sich eine vitale Form der Selbstreflexion, die die Kinder sie selbst werden lässt und ihnen hilft, mit Gefühlen umzugehen.
5. Wie finden Kinder den Namen ihres Phantasiefreundes?
Die Namensgebung von Phantasiefreunden kann zufällig sein. Namen werden oftmals lautmalerisch geschaffen (Didi, Dodo usw.). Manchmal stehen auch bekannte Namen aus dem sozialen Umfeld des Kindes oder auch bekannte Medienfiguren Pate für den neuen Freund. Es gibt jedoch auch Fälle, da bekommt der Name des Phantasiefreundes eine identitätsstiftende, symbolische Bedeutung. Es wird zum Beispiel von einem zweisprachig aufwachsenden Jungen berichtet, der seinen Freund Bilos nennt (aus dem Wort »bilingue« = zweisprachig) und der wiederum zweisprachig aufwächst.
6. Wann gibt es einen Grund zur Besorgnis?
Um diese Frage zu beantworten, sind zusätzliche Informationen über das Kind notwendig. Hat es wirkliche Freunde? Hat es Einschlafprobleme, zeigt es nervöse Verhaltensweisen oder Depressionen? Die Antworten auf diese Fragen helfen zu entscheiden, ob es Anlass zur Sorge gibt. Eltern würden sich aber auch über ein Kind Sorgen machen, das die genannten Verhaltensweisen zeigt, wenn das Kind keine unsichtbaren Freunde hätte. Wichtig ist, dass kreative Kinder, wenn sie älter werden, wahrscheinlich eine Neigung zu imaginativen Beschäftigungen behalten werden, die bedeutende Aufgaben in ihrem Leben erfüllen.
7. Wann hört das wieder auf?
Bei den meisten Kindern verschwinden die unsichtbaren Freunde im Grundschulalter. Dennoch behalten oder erfinden auch ältere Kinder oder Erwachsene treue Begleiter. Das, was einige Menschen als inneres Gespräch erleben, wird bei anderen durch eine unsichtbare »äußere« Figur aufrechterhalten. Darin scheint der menschliche Wunsch zu liegen, auch in Phasen der Einsamkeit, Verzweiflung oder sonstiger bewegender Erlebnisse einen selbstreflexiven Dialog führen zu können.
Literatur: Neuß, Norbert: Unsichtbare Freunde. Warum Kinder Phantasiegefährten erfinden. Berlin 2009
Quelle: www.erziehungskunst.de