Neue Strategien gegen Dyskalkulie

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Warum findet Frühförderung bereits im Vorschulalter statt?

Der Schuleintritt ist nicht die „Stunde Null“ für den Aufbau mathematischer Kompetenz. Schon ab etwa fünf Jahren zeigt die mathematische Entwicklung unserer Kinder eine hohe Stabilität. Das heißt: Die Kinder, die bis dahin schon viel Vorwissen haben aufbauen können, werden auch weiterhin auf diesem hohen Niveau Erfahrungen mit Mengen und Zahlen verarbeiten und verknüpfen. Die Kinder aber, die bis zu diesem Zeitpunkt nur zu wenig Vorwissen gelangten, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im letzten Kindergartenjahr ohne spezifische Unterstützung kaum ihre Vorwissensbasis ausbauen können. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass schon zu diesem frühen Zeitpunkt die spätere schulische Mathematikleistung recht zuverlässig vorhergesagt werden kann.

Wenn wir also schon vor der Einschulung genau hinsehen, wissen wir, welches Kind später Probleme in Mathematik bekommen wird. Ist es legitim, dieses Kind sehenden Auges in eine Lernstörung laufen zu lassen? Ist es nicht die Pflicht einer jeden Betreuungsperson, dieses Kind frühzeitig zu unterstützen, damit es die gleichen Chancen auf ein entspanntes und zufriedenes Schülerdasein hat wie die anderen Kinder auch?

Gleiche Chancen für alle!

In wissenschaftlichen Untersuchungen ist es gelungen, Vorschulkinder auf spielerische Weise auf die Grundschulmathematik vorzubereiten. Die Kinder, die in den Genuss dieser Förderung gekommen waren, lernten wesentlich einfacher Rechnen.

Eine solche Förderung hat demnach selbstverständlich nicht das Ziel, aus allen unseren Kindern „mathematische Hochleister“ zu machen. Sie ist vielmehr ein Beitrag zur Gerechtigkeit den schwächeren Kindern gegenüber. Schwächere Kinder sind in diesem Fall Kinder, die entweder wegen eines genetisch angelegten familiär erhöhten Risikos zur Ausbildung von Rechenschwierigkeiten oder wegen geringerer Möglichkeiten der frühkindlichen häuslichen Förderung als Risikokinder für spätere Rechenschwierigkeiten bezeichnet werden müssen. Diese Förderung bewirkt somit nichts anderes als die Schaffung einer vergleichbar guten Ausgangslage zu Schulbeginn. Das können wir auch Chancengleichheit nennen: Wir geben den schwächeren Kindern das mit, was die stärkeren bereits haben.

Diese Überlegungen bildeten die Grundlage für die Entwicklung des Vorschulförderprogramms „Mengen, Zählen, Zahlen“, das in diesem Kapitel detailliert vorgestellt wird. Doch vorab einige grundsätzliche Überlegungen zu den vier Säulen wirksamer Frühförderung:

Die vier Säulen mathematischer Frühförderung

Säule I: mathematische Inhalte

„Den Umgang mit Mengen und Zahlen lernt man nur durch den Umgang mit Mengen und Zahlen.“ Auch wenn das vielleicht trivial klingt, so ist es doch äußerst wichtig für eine wirklich wirksame Förderung unserer Kinder. Die neuere Forschung weist darauf hin, dass die Förderung unspezifischer Basismerkmale (wie beispielsweise Psychomotorik oder visuelle Wahrnehmung) kaum zu einer Verbesserung des mathematischen Basiswissens führt. Darum ist es von größter Bedeutung, dass die Kinder sich in einer Frühförderung direkt mit mathematischen Inhalten, also mit Mengen und Zahlen, auseinandersetzen. Nur so geben wir ihnen eine Chance, die Struktur der Zahlen zu verstehen.

Säule 2: das „richtige“ Material

Lernen mit Drops

Lasse ist Schulkind und rechnet mit Schokodrops. Er akzeptiert diese Rechenübungen, weil er weiß, dass er hinterher alle Drops aufessen darf. Entscheidend ist für Lasse also nicht das, was während des Rechnens passiert, sondern das, was sich an diese leidigen Übungen anschließt.

Ob Lasse wirklich so richtig bei der Sache ist? Ob er den „Kern der Handlung“ abspeichert?

Üben mit Klunkern

Ines ist ebenfalls in der ersten Klasse und bekommt fürs Rechnen bunte Glitzersteine. Die schimmern in allen Farben, und sie fühlen sich toll an. Wenn man sie gegen das Licht hält, leuchten sie besonders schön. Wenn Ines ihre Rechenübungen mit diesem Material machen soll, hält sie immer wieder einzelne Steine in die Sonne oder lässt sie durch die Finger gleiten, weil sie sich so glatt und geschmeidig anfühlen.

Beide Kinder lieben das Material, das ihnen bei Rechenübungen zur Veranschaulichung gegeben wird. Aber hilft ihnen dieses Material wirklich, zur Abstraktion zu gelangen? Oder lenken die Schokodrops und die Glitzersteine eher ab? Wenn ja – um wie viel mehr müssen wir bei der Förderung der Kindergartenkinder darauf achten, ihnen keine falschen Fährten zu legen.

Tatsächlich soll Material beim Aufbau mathematischer Kompetenz nur einen einzigen Zweck erfüllen: Es soll die Kinder vom Konkreten zum Abstrakten hinführen; es soll also die abstrakte Struktur der Zahlen und deren Zusammenhänge sichtbar und fühlbar machen. Wenn wir einem Kind verdeutlichen wollen, dass die Anzahl „sieben“ mehr ist als die Anzahl „sechs“, dann hindern wir es am tiefen Verständnis, wenn wir ihm Materialien vorlegen, die allzu viele Assoziationen (süß, glitzernd, schön, wertvoll ...) wecken und dadurch ablenken. Das Kind muss all diese spontanen Assoziationen und Empfindungen erst einmal wegschieben, bevor es zum abstrakten Kern der Darstellung gelangen kann.

Noch schwieriger wird das Ganze, wenn Sie für die beiden Mengen unterschiedliche Materialien verwenden, beispielsweise sieben Gummibärchen und acht Knöpfe. Hier hindern Sie Ihr Kind geradezu daran, die Anzahlen zueinander in Beziehung zu setzen („Zone der nächsten Entwicklung“). Aus der Anzahl „sieben“ kann die Anzahl „acht“ werden – aber aus sieben Gummibärchen können nie acht Knöpfe werden!

Das Prinzip der „Zunahme um eins“ („Präzise Größenrepräsentation“) wird durch solche – vermeintlich kindgerechten – Materialien also verschleiert. Darum ist es enorm wichtig, unseren Kindern Materialien zu geben, die möglichst wenige Assoziationen wecken, die vom numerischen Kern der Darstellung wegführen. Außerdem sollte das verwendete Material so gestaltet sein, dass es die größer werdenden Zahlen durch regelmäßig größer werdende Flächen oder Längen darstellt.

An solchen konkreten Materialien können die Kinder die abstrakte Struktur der Zahlen erkennen und müssen sich den Zahlenraum nicht selbst im Kopf konstruieren. Sie können begreifen und erkennen.

Die „Zone der nächsten Entwicklung“ ist hier von ganz besonderer Bedeutung. Wir Erwachsenen dürfen bei der Förderung der uns anvertrauten Kinder nicht nur den aktuellen Lernschritt im Auge behalten, sondern müssen schon weiterdenken: „Wie kann das Kind das Wissen, das es gerade erwirbt, später mit anderen Erfahrungen verknüpfen?“ So wäre es beispielsweise unsinnig, wenn wir unsere Vorschulkinder für verschiedene Anzahlen immer unterschiedliche Materialien auszählen ließen. Dadurch würden wir ihnen den nächsten Entwicklungsschritt verstellen. Aus drei Zöpfen werden nun mal nicht vier Sommersprossen. Solche Beispiele, die wir übrigens in weit verbreiteten Zahlenspielen finden, hindern die schwachen Kinder am nächsten Entwicklungsschritt – sie lenken den Blick vom Wesentlichen, nämlich der Anzahl, weg. Die Erkenntnis, dass beispielsweise der Unterschied zwischen 3 und 4 „ein Ding“ ist, wird erschwert.

Säule 3: die mathematische Sprache

Größenordnungen

Die Erzieherin erklärt den Kindern: „Die 5 ist größer als die 3.“ Karsten, ein pfiffiger Sechsjähriger, schüttelt entschieden den Kopf: „Nö, das muss nicht unbedingt sein!“ Er malt eine große 3 und eine kleine 5 aufs Papier: „Jetzt ist die 3 größer!“

Selbstverständlich verbinden Kinder den Begriff „größer“ in erster Linie mit optischer Größe, und so sind solche Missverständnisse vorprogrammiert. Denn Kinder nehmen uns beim Wort. Das bedeutet: Wenn wir mit ihnen über mathematische Zusammenhänge sprechen, müssen wir das in einer exakten und eindeutigen Sprache tun – in einer Sprache, die sie in ihre Vorwissenswelt einordnen können. Kinder, die im Vorschulalter schon viel Vorwissen haben, kommen auch mit weniger exakten Formulierungen zurecht – sie suchen sich die passende Bedeutung aus. Kinder aber, die kaum Vorwissen haben, sind darauf angewiesen, dass sie uns beim Wort nehmen können, wenn wir ihnen etwas erklären.

Eine exakte mathematische Sprache ist also von größter Bedeutung für die mathematische Förderung. Wir dürfen nicht erwarten, dass unsere Kinder „sich schon das Richtige denken“, sondern wir müssen sie durch unsere Sprache auf das Wesentliche hinlenken, zum Beispiel so: „Drei Dinge sind mehr als zwei Dinge“, „von zwei zu drei kommt eins dazu“ ...

Kennen Sie den Spruch: „Begreifen“ kommt von „greifen“? Genau dieser Spruch trifft in der Mathematik nicht zu! Wie viele rechenschwache Kinder haben in der Schule unendlich lange mit Material gearbeitet, weil sie beim Kopfrechnen überfordert waren? Haben sie dadurch begriffen? Oder haben sie das Material nur als Zählhilfe verwendet? Förderlehrer bestätigen: Mit Material kommen die Kinder im Unterricht und bei Klassenarbeiten viel besser zurecht als ohne. Kaum nimmt man das Material jedoch wieder weg, sind die Kinder genauso hilflos wie vorher. Das bedeutet: Die Tatsache, dass ein Kind mit Material „hantiert“, führt noch lange nicht dazu, dass es den mathematischen Kern dieser Handlung auch verinnerlicht. Erst wenn die Sprache dazu kommt, wenn das Kind angeleitet wird, zu „verbalisieren“, was das Wesentliche seiner Handlung war, warum es eine Zehnerstange wegnahm o. Ä., dann wird begriffen. So müssen wir den Spruch korrigieren:

In der Mathematik kommt „begreifen“ von „greifen“ und „darüber reden“.

Säule 4: Systematischer Aufbau der mathematischen Inhalte

Jede gute Förderung hat ein theoretisches Modell im Hintergrund. Wie die frühe Diagnostik sollte sich darum auch die frühe Förderung mathematischer Kompetenzen an der natürlichen Entwicklung von Mengen- und Zahlenwissen orientieren. Dafür gibt es beispielsweise das Entwicklungsmodell aus Kapitel 4. Es gibt uns die Schritte vor, die wir in der Frühförderung mit unseren Kindern gemeinsam gehen sollten – nämlich systematisch die einzelnen Kompetenzebenen aufbauen, damit die Kinder schließlich zu einer abstrakten Vorstellung über die Struktur der Zahlen gelangen. Das ist nicht leicht, und aus dem Stegreif könnte das wohl kaum jemand. Darum werden Förderprogramme entwickelt, die uns die notwendigen Schritte genau vorgeben. So haben Erzieherinnen und Therapeuten die Sicherheit, den richtigen Weg zu gehen.

Die hier beschriebenen vier Säulen bilden die Basis, auf der ein gutes Förderprogramm für Vorschulkinder unbedingt ruhen muss. Leider erfüllen viele, zum Teil weit verbreitete Förderkonzepte für Vorschulkinder diese Bedingungen aber nicht. Sie sind zwar angefüllt mit phantasievollen Spielen und machen den Kindern darum auch Spaß, aber der Lerneffekt für die Schwachen ist keineswegs gesichert. Das sollte uns zu denken geben und uns anregen, Fördermaterialien künftig genauer unter die Lupe zu nehmen.

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:
Wie Kinder besser rechnen lernen
Neue Strategien gegen Dyskalkulie
Küspert, Petra
ISBN: 9783934333703
192 Seiten, 19,95 €

Mehr dazu auf www.oberstebrink.de

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