Wozu brauchen Kinder den Kindergarten?

Die Wahrheit des Ganzen wird durch die Wahrheit des Details getragen

Vorbemerkung

Ein Blick auf verschiedene Untersuchungen zur Qualität der Kindergartenpädagogik provoziert die Frage, wie hilfreich der Besuch des Kindergartens für die Entwicklung von Kindern wirklich ist. Wie ist es zum Beispiel zu verstehen, dass viele Kinder, die während ihres Kindergartenbesuchs bestimmte auffällige Verhaltensweisen haben, diese auch noch in vollem Umfang mit in ihre Schulzeit übernehmen? Was trägt dazu bei, dass Mitarbeiterinnen von Kindergärten es nicht schaffen, Kindern dabei hilfreich zur Seite zu stehen, ihre besonderen Probleme zu verarbeiten? Wie ist es zu verstehen, dass die Zahl der Kinder steigt, die mit der Zeit des Kindergartenbesuchs immer weniger Lust haben, diese Einrichtung zu besuchen? Was läuft im Kindergarten also falsch, dass der Wunsch von Kindern, jeden Morgen dorthin zu gehen, vermehrt sinkt?

Wie ist es zu verstehen, dass die Tendenz in Kindergärten festzustellen ist, dass Erzieherinnen schneller ausgebrannt sind (Burn-out-Syndrom) als früher und häufiger ihren Arbeitsplatz wechseln oder ganz mit der Arbeit aufhören im Vergleich zu früheren Jahren? Was tragen sie selbst als Person und was tragen besondere Bedingungen dazu bei, dass Stetigkeit und Arbeitsmotivation in weitaus schnellerem Maße abklingen und ihre Auswirkungen automatisch auf die Kinder übertragen werden? Wie ist es möglich, dass in vielen Kindergärten immer noch ohne Konzeption gearbeitet und dafür das Pseudoargument genannt wird, es bestehe eine mündliche Absprache untereinander, wie die Arbeit zu geschehen hat? Wie ist es zu verstehen, dass in schriftlich fixierten Konzeptionen Bildungs- und Erziehungsziele genannt sind, die – wenn sie mit der Praxis verglichen werden – definitiv nicht übereinstimmen und dort nur als inhaltsleere, schön formulierte, aber praxisfremde Aussagen aneinandergereiht sind?

Einige wenige Fragen, die endlos fortgesetzt werden könnten; Fragen, die aber einer Antwort bedürfen, weil Kinder einen Anspruch auf Entwicklungschancen haben.

Beispiele

Frederik, vier Jahre alt, kommt neu in den Kindergarten. Ganz offensichtlich hat er Schwierigkeiten, sich in der großen Gruppe wohl zu fühlen, denn jeden Morgen steht er an der Eingangstüre zum Gruppenraum, schaut sich ängstlich um und weigert sich, den Raum zu betreten. Die Erzieherin versucht es zunächst mit Geduld, dann mit eher rigiden Aufforderungen, doch endlich einzutreten und mit den anderen Kindern zu spielen. Unzufrieden und mit offensichtlichem Widerstand folgt Frederik dem Bedürfnis der Erzieherin.

Es kann angenommen werden, dass Frederik Angst vor der großen Gruppe der Kinder, vor dem Neuen und Unbekannten hat. Nur: Wie steht es hier mit dem Postulat der Kindergartenpädagogik, Kinder in ihren Gefühlen zu verstehen und auf ihre individuellen Bedürfnisse einzugehen?

Marius spielt gedankenversunken mit seinen Bauklötzen. Mit hochrotem Kopf ist er dabei, einen Turm zu konstruieren und Pläne zu überlegen, wie der Turm trotz seiner Höhe nicht einstürzen wird. Mitten im Spiel kommt die Erzieherin und fordert Marius auf, die Klötze einzuräumen und zum Vorschultraining mit den anderen Kindern zu kommen.

Für Marius ist das Spiel Mittelpunkt seiner jetzigen Tätigkeit – ihr widmet er seine Zeit und seine Möglichkeiten, sein Interesse und seine ganze Aufmerksamkeit. Nur: Wie steht es hier mit dem Postulat der Kindergartenpädagogik, Kindern in der Gegenwart Zeit zu schenken und ihnen Raum zu geben, das Spielen intensiv zu erleben?

Stephanie spielt mit anderen Kindern zusammen in der „Verkleidungsecke“ – eine große Kiste voller Utensilien, von Hüten angefangen bis zu Unterröcken, Kleidern, Hosen, Hemden und Blusen – lädt zum Rollenspiel ein. Die Kinder lachen, sind laut und lustig, probieren vieles aus und führen schließlich eine Modenschau vor. Leicht genervt bittet die Erzieherin, ruhiger zu sein, und als ihre Bitte keinen Erfolg zeigt, fordert sie Stephanie und die anderen Kinder auf, endlich „damit aufzuhören“ und lieber bei der Vorbereitung des Frühstücks zu helfen.

Für Stephanie und die anderen Kinder gab es zur Zeit nichts Schöneres, als immer wieder mit Hilfe der Verkleidungssachen Szenen wie Hochzeit, Arztbesuch oder Beerdigung, Ausflugsunternehmungen und Zoobesuch zu spielen. Nur: Wie steht es hier mit dem Postulat der Kindegartenpädagogik, aktuelle Bedürfnisse, die offensichtlich für Kinder eine Bedeutung haben, wahr und ernst zu nehmen, zuzulassen und zu beobachten, ob sie Anlass sein können, sie in ein gemeinsames Projekt zu integrieren?

Jonas und Sandra halten sich seit einiger Zeit auf dem freien, bewachsenen Gelände des Kinder-gartens, also außerhalb des Gruppenraums auf. Die niedrigen Bäume und Büsche bieten sich für Kinder geradezu herrlich an, dort Höhlen zu bauen und geheimnisvolle Dinge zu unternehmen. Als die Erzieherin die Abwesenheit der Kinder bemerkt, ruft sie die beiden zu sich und erklärt ihnen, dass entweder alle Kinder im Kindergartenraum bleiben oder alle Kinder draußen spielen könnten. Sie habe eben eine Aufsichtspflicht und bitte darum, dass sich die beiden auch daran halten.

Für beide Kinder ist es wichtig, alleine miteinander etwas zu tun – ohne Beobachtung anderer, ohne Störung von außen und geschützt vor den Augen Dritter. Doch das wird nicht zugelassen. Wie steht es hier mit dem Postulat der Kindergartenpädagogik, Kinder in ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu fördern, sich in ihrer Einzigartigkeit zu erfahren und Neugierde aktiv auszuleben?

Jana und Tobias haben eine große Menge Papier vor sich liegen, Klebstoff, Scheren, Pappe und Hölzer. Sie wollen ein „Monster“ bauen und arbeiten eifrig mit der ganzen Fülle des Materials. Schnell liegen Papierfetzen auf dem Boden, ein wenig Klebstoff tropft aus der Flasche und Hölzer liegen verteilt herum. Schon nach kurzer Zeit bekommen sie einen „Rüffel“ von der Erzieherin, doch endlich „ordentlich mit dem Material umzugehen“. Beide Kinder werden wütend und äußern ihren Zorn. Dies ist der Beginn eines Machtkampfes, was sie dürfen und was nicht.

Ganz offensichtlich spürten beide Kinder den großen Wunsch, großflächig und voll grenzüberschreitender Ideen etwas zu bauen, was ihnen Spaß macht. Dabei wurden festgelegte Grenzen üblicher Verhaltensmuster überschritten mit der Folge, dass ihr Tatendrang von außen gebremst wurde. Nur: Wie steht es hier mit dem Postulat der Kindergartenpädagogik, Fantasie und Kreativität von Kindern zu wecken und zu unterstützen?

Die Reihe an Beispielen könnte endlos fortgesetzt werden:

  • Kinder werden in einem Kindergarten/Hort auf Grund von Personalmangel aufgefordert, mittags eine Stunde zu schlafen, gleichgültig, ob sie müde sind oder nicht. Wie steht es hier mit dem Postulat des Kindergartens, Mitbestimmung als wesentliches Merkmal demokratischer Erziehung kennen zu lernen?
  • In einem anderen Kindergarten werden Kinder, die morgens schon „vor dem gemeinsamen Früh-stück“ Hunger haben, sehr dirigistisch aufgefordert, so lange zu warten, bis alle Kinder mit dem Frühstück beginnen. Freies Frühstück wird hier gleichgesetzt mit Chaos und Regellosigkeit. Wie steht es hier mit dem Postulat des Kindergartens, bedürfnisorientiert auf Kinder einzugehen und wertschätzend ihre Interessen zu berücksichtigen?
  • Nicht selten ähnelt der Kindergarten einem Ausstellungsgelände für kopierte Arbeiten. Hier hängen 20 gleiche Katzen mit Ringelschwänzen an der Decke, dort kleben 23 gleiche Fische am Fenster des Gruppenraums. Wie steht es hier mit dem Postulat des Kindergartens, Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit zu entdecken und zu fördern?
  • Viele Kindergärten haben einen großen Flurbereich, nur wird er nicht genutzt. Stattdessen leben die Gruppen zurückgezogen in ihren mehr oder weniger kleinen Räumen, zusammengepfercht zwischen Stühlen, Tischen und Schränken. Wie steht es hier mit dem Postulat des Kindergartens, Bewegungsbedürfnisse von Kindern zu achten und ihrem Drang nach Bewegung durch ganzheitliche Angebote zu entsprechen?
  • Kinder möchten gerne ihr Spielzeug mit in den Kindergarten bringen. In vielen Kindergärten sind aber Super-Mario, Star Wars, Harry-Potter-Figuren, Barbie-Puppen, Transformers, Princess und ähnliche Spielmittel nicht erlaubt. Wie steht es hier mit dem Postulat des Kindergartens, eine Pädagogik der Gegenwart, unter Einbeziehung der Lebenswelt der Kinder, zu realisieren?
  • ln vielen Kindergärten werden Konflikte zwischen Kindern sehr schnell und eindeutig von Erzieherinnen für Kinder gelöst. Wie steht es hier mit dem Postulat des Kindergartens, dass Kinder Strategien zur Bewältigung gegenwärtiger Lebenssituationen erlernen können?
  • Wenn Kinder im Kindergarten erfahren, dass sie sich nur innerhalb bestimmter Grenzen „verhalten“ dürfen, an festgelegte Regeln zu halten haben und lediglich Erfüllungsgehilfen bestehender Grundsätze sind, wie erfüllt der Kindergarten dann das Postulat, Kinder in ihrer Flexibilität zu unterstützen und auf zukünftige Lebenssituationen, nämlich der Fähigkeit der aktiven Gestaltung zukünftiger Lebenssituationen, vorzubereiten?
  • Kinder werden in Kindergärten dann häufig gemaßregelt, wenn sie durch ungewohnte, neuartige Ideen „aus der Rolle fallen“. Oder wie ist es zum Beispiel zu verstehen, wenn in einem norddeutschen Kindergarten Kinder dafür zur Rechenschaft gezogen wurden, als sie ein paar Eimer Sand im Kindergartenraum ausschütteten, trotz eines geeigneten Bodens, trotz ausreichenden Platzes? Wie steht es hier mit dem Postulat des Kindergartens, Kinder in ihrem Wunsch des Ausprobierens, im Sammeln neuer Erfahrungen zu unterstützen?
  • Kinder mit besonderen Problemen (auffälligen Verhaltensweisen) werden nicht selten von Erzieherinnen in Anwesenheit anderer Kinder dirigistisch aufgefordert, bestimmte Dinge zu unterlassen, andernfalls hätten sie sich in eine bestimmte Ecke zu begeben, Eltern würden angerufen oder sie hätten den Raum zu verlassen, zum Beispiel sich im Raum der Leiterin aufzuhalten. Wie steht es mit dem Postulat des Kindergartens, Kinder in ihren sozialen Verhaltensweisen zu fördern und ihnen nahe zu bringen, niemanden auszugrenzen?

Die Traurigkeit der Beispiele liegt darin, dass sie real sind – Beispiele von vielen, die der Autor während seiner Arbeit in ungezählten Kindergärten vielfach beobachten musste.

Es ist natürlich müßig, Gründe zu benennen und in großer Breite zu diskutieren, warum viele Aus-sagen in der Elementarpädagogik real inhaltsleer sind, kindermissachtende Bedingungen real existieren und eine Grundsatzdiskussion auf breiter Basis real fehlt. Was fehlt, ist die Bereitschaft der politischen Kräfte auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, Aussagen zur Bedeutung der Kindheit entsprechend finanziell zu unterstützen. Was fehlt ist die Bereitschaft vieler Erzieherinnen, Grundsatzdiskussionen aktiv zu suchen und eine Öffentlichkeitsarbeit so zu gestalten, dass die Bedeutung des Kindergartens berechtigterweise aufgewertet wird. Was fehlt ist die Bereitschaft vieler Ausbildungsstätten, „Kindheiten heute“ zum realen Ausgangspunkt der Lerninhalte wer-den zu lassen, überflüssige Theorie über Bord zu werfen, aktuelle Pädagogik in kindzentriertem Verständnis zu vermitteln und Persönlichkeitsbildung der zukünftigen Erzieherinnen zu realisieren.

Nur: Kann es sich die Elementarpädagogik, wenn sie wirklich im Interesse von Kindern zu geschehen hat, erlauben, auf effektive, reale, glaubwürdige Zeichen der Zeit zu warten? Wer dies fordert, gebraucht die Obrigkeit – wer immer dies im speziellen Fall ist – als persönliches Alibi, hinter dem sich gut zu verstecken ist. Kinder haben einen verbrieften Anspruch auf Entwicklung, auf Förderung ihrer Einmaligkeit und auf Unterstützung ihrer Rechte. Wer dies nicht begreift oder verstehen möchte, tritt Kinderrechte täglich mit Füßen.

Ausblick

Täglich ist es Zeit, die eigene Praxis daraufhin zu überprüfen, ob Kinder die Möglichkeit haben und gleichzeitig Personen im Kindergarten vorfinden, die sie in ihrer Handlungstüchtigkeit unterstützen. Dazu ist es notwendig, dass Erzieherinnen Verhaltensweisen zeigen, die es Kindern ermöglichen, wirklich zu wachsen. Forderungen an Erzieherinnen (im eigenen Interesse und dem von Kindern) müssen daher deutlich formuliert und realisiert werden:

Bewusster Verzicht auf eine Bemächtigung der Kindheit

  • stattdessen Respekt vor Kindern; Beendigung der Überpädagogisierung
  • stattdessen Schaffung wertschätzender Begegnung; Verzicht auf Fremdbestimmung
  • stattdessen Akzeptanz der Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Kinder; Verzicht auf Beibehaltung alter Denkstrukturen
  • stattdessen Neuorientierung in der Pädagogik; Beendigung gelobter Rollen als Spielverderber
  • stattdessen die Rolle aktiver Interessenvertreter von Kindern, ihrer Bedürfnisse, Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen einnehmen, um mit ihnen zusammen die Welt kindgerechter zu gestalten. Jeden Tag.

Dann wird die Wahrheit des Ganzen durch die Wahrheit der Details getragen.

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:

Elementarpädagogik und Professionalität
Lebens- und Konfliktraum Kindergarten
Krenz, Armin
Burckhardthaus-Laetare
ISBN: 9783944548005
192 Seiten, 24,95 €

Mehr dazu auf www.oberstebrink.de



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