Erfahrungen machen Kinder stark

So finden Kinder ihren Weg und nehmen ihr Leben in die Hand

Kinder stärken und sie in ihrer Entwicklung unterstützen. Das ist der Weg, Kinder körperlich, geistig und seelisch zu erziehen. Bewegung und selbst gemachte Erfahrungen sind wichtige Vorraussetzungen, damit Kinder zu starken Persönlichkeiten werden, die sich nicht in Angst, Gewalt oder Sucht flüchten.

Mario (6 Jahre alt) wirkt bei allen Aktivitäten gehemmt und ängstlich. Er ist immer auf dem Rückzug: „Ich weiß nicht.“ · „Ich will nicht.“ · „Ich kann nicht.“ So lauten seine häufigsten Antworten.

Seine Mutter hat den Eindruck:

„Er traut sich nichts zu, in keinem Bereich. Unabhängig davon, ob es um Geschicklichkeit, Ideen, Beweglichkeit oder Durchsetzungsvermögen geht.“

Die Erzieherin hat beobachtet:

„Er bremst sich regelmäßig selbst aus. Ihm passiert es nie, dass er mal ganz spontan, quasi aus Versehen, bei einem Spiel oder beim Quatsch mitmacht.“

Der Grundschullehrer berichtet:

„Irgendwas lässt ihn vor jeder Initiative zurückschrecken. Ich glaube, er traut sich noch nicht mal über einen eigenen möglichen Einsatz nachzudenken. Und dann macht er halt gar nichts. Nur wenn er die Pflicht und den Druck spürt, bringt er seine Aufgabe hinter sich. Und zwar mit möglichst geringem Einsatz“.

Mario selbst meint:

„Alle wissen schon lange vor mir, wie man was richtig macht. Da fange ich erst gar nicht an, weil ich natürlich nicht weiß, wie es geht. Weil ich bestimmt einen Fehler mache oder was kaputt geht und es nie so gut wird wie das, was ich bei den anderen Kindern sehe.

Wer Hilflosigkeit gelernt hat, hat Angst vor neuen Erfahrungen.

Mario hat – wie erschreckend viele Kinder Angst davor, etwas falsch zu machen. Er sieht bei Aktionen seine Chancen nicht. Viel eher erwartet er automatisch einen Misserfolg – auf alle Fälle ein schlechteres Abschneiden gegenüber den anderen Kindern. Er geht davon aus, bereits verloren zu haben, bevor er sich überhaupt einer Situation stellt. Einen Erfolg oder einen Sieg hält er für ganz ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass er jeden eigenen Aufwand ablehnt. In seinen Augen birgt jeder Einsatz das Risiko, dass wieder etwas schiefgehen könnte und zumindest er selbst danach wieder maßlos enttäuscht sein wird. Es liegt außerhalb seiner Vorstellungen, dass etwas, was er macht oder anregt, Anerkennung verdient, einfach gut ist und auch er damit zufrieden sein könnte. Deshalb scheut Mario vor dem kleinsten Hindernis zurück – in seinen Augen scheint es ja auch unüberwindbar.

Wer Angst hat, braucht neue Erfahrungen, um keine Angst mehr zu haben.

Marios schlechte Erfahrungen prägen sein Verhalten so stark, dass er erstarrt und innerlich immer am gleichen Punkt stehen bleibt. Deshalb kann er von sich aus gar nicht in die Situation kommen, neue – mal positive – Erfahrungen zu machen. Er verbaut sich die Chance umzulernen, kann aber nichts dafür. Hier braucht er Hilfe.

Fachleute sagen: „Mario hat Hilflosigkeit gelernt. Und jetzt macht sein angstgeprägtes Verhalten ihn neuen Erfahrungen gegenüber lernresistent.“ Das heißt: Seine Furcht vor neuen angstmachenden Erlebnissen ist so groß, dass er auf sein angstbeschwichtigendes Verhalten – etwa sich bei Anforderungen zurückziehen oder sich bei Anfragen tot stellen – nicht verzichten kann. Hier mal anders zu reagieren wäre jedoch die einzige Voraussetzung für einen echten Umlernprozess. Die Erfahrung: „Es hat geklappt, es war sogar gut“ wäre ungeheuer wichtig für ihn. Aber Angst verhindert solche ermutigenden Erfahrungen. Es ist verhängnisvoll: Er braucht neue Erfahrungen, um Angst mehr zu haben. Diese Erfahrungen zu machen verhindert jedoch seine übergroße Angst. Ein echter Teufelskreis, aus dem Fachleute aber Ausstiegsmöglichkeiten anbieten können.

Verschiedene Disziplinen wählen heute für diese aus der Not entstandene stark einschränkende Erlebnisarmut eine interessante Herangehensweise – für Sie deshalb interessant, weil Sie hier wichtige Bestandteile der Resilienzförderung wiederfinden.

Folgende Gedanken zur Steigerung der psychischen Widerstandsfähigkeit kommen hier im therapeutischen Umfeld zum Tragen:

  • Erwachsene mit ihrem Erfahrungsvorsprung sollten über genug Ressourcen verfügen, um ein für das Kind günstiges Lebens- und Lernumfeld zu arrangieren, in dem Entwicklungsanreize entstehen können.
  • Geeignete Entwicklungsanreize sind Einladungen an die Kinder, auszuwählen und Schritt für Schritt weiterzugehen.
  • Die Erfahrungen müssen umorganisiert werden, damit sie das Kind bereichern, es lebensbejahender und handlungsfähiger werden lassen.
  • Es geht nicht darum, eine Verhaltensänderung herbeizuführen – nach dem Motto „Das Kind muss sich ändern, sonst gar nichts.“
  • Die Aufgabe ist nicht, das Kind besser an seine Umgebung anzupassen – sondern die Umgebung so zu verändern, dass das Kind es in ihr leichter hat, seinen eigenen Weg zu finden.
  • Nach dieser Anregung begleiten die Erwachsenen nur noch. Sie ermutigen zum Weitergehen, indem sie darauf achten, die Lebensbedingungen weiterhin attraktiv, herausfordernd, beeinflussbar und belohnend für das Kind zu organisieren. Es kommt darauf an, welche eigenen Gestaltungsmöglichkeiten das Kind darin wahrnimmt.

Der Sozialpädagoge Klaus Wolf beschreibt diesen pädagogisch-therapeutischen Schritt als „andereEntwicklungsbegleitung ...

  • weg von Erziehung durch Belohnung, Strafe und Reglementierung
  • hin zu einer Erziehung, die entwicklungsfördernde Lebensbedingungen arrangiert und tragfähige wechselseitige Beziehungen anbietet
    – das lässt Stärke spüren!

Es geht nicht darum, ein Kind nach einem vorher festgelegten Bild zu formen. Es geht nicht etwa um die Fabrikation des zuverlässigen oder normalen oder gesunden Menschen. Es geht einfach nur darum, die eigene, auch die „eigenartige“ Entwicklung eines Kindes zu begleiten und zu fördern, damit es zu seiner eigenen Form kommt.

Wir sagen: „Damit es seinen Weg findet.“ Und zwar mithilfe erwachsener Vorbilder und Strukturen, die mehr Orientierung geben und genügend Freiraum für eigene Erfahrungen lassen.

Mario in unserem Beispiel hat seinen Weg noch nicht gefunden. Vor diesem Problem stehen viele Kinder. Ihre Erwartung, dass bei ihnen auch mal was klappen könnte, ist viel zu klein. Deshalb gehen sie vorsichtshalber allen möglichen Erlebnissen aus dem Weg. So bleiben dann auch die wider Erwarten guten Erfahrungen aus – und gefühlsmäßig ist alles beim Alten geblieben.

Erst speziell für sie geschaffene Situationen mit sorgfältig „handverlesenen“ Entwicklungsanreizen helfen solchen Kindern, die fehlenden Erfahrungen nachholen und genießen zu können. Dann kann ihre „E-Kette“ in Gang kommen. Dabei geht es um den engen Zusammenhang zwischen Erwartungen, Erlebnissen, Erfahrungen und den sie begleitenden Emotionen, die allesamt immer tiefer in die Sackgasse hineinführen können, aber natürlich – beginnend an einem neuen Startpunkt – auch zielsicher wieder heraus.

Was hat Mario und Kinder wie ihn bisher davon abgehalten, ihren Weg zu finden?

Vieles spricht dafür, ...

  • dass er dauernd gegen „fremde“ Erwartungen ankämpfen musste und seine eigenen stattdessen zu kurz kamen.
  • dass er mit zu hohen Anforderungen konfrontiert wurde.
  • dass er keinen Spielraum hatte, seinen Lösungsweg zu versuchen, weil immer die effizienz- und zielorientierte Messlatte der Erwachsenen an sein Handeln angelegt wurde.
  • dass stets möglichem „Misslingen“ vorgebeugt, „Unnötiges“ ausgelassen, vorschnell eingegriffen und dauernd verbessert wurde.
  • dass er also ständig daran gehindert wurde, überhaupt mal einen eigenen Weg zu suchen.

Wir haben aus unseren vielen Beratungsgesprächen einige beeindruckende Gedanken solch verunsicherter Kinder zusammengestellt, die ihren eigenen Weg noch finden müssen und dazu Unterstützung brauchen:

  • „Ist überhaupt irgendwas richtig an mir? Wenn, dann kenne ich es nicht.“ (Fabian, 7 Jahre alt)
  • „Was wäre, wenn mal niemand dazwischen gehen würde? Wenn ich nur mal so was machen würde, einfach so, ohne Überlegen? Das wäre bestimmt von Anfang an eine Katastrophe. Manchmal denke ich, die Welt wäre danach überhaupt nicht mehr in Ordnung.“ (Laura, 6 Jahre alt)
  • „Ich weiß noch: Früher war ich mal besser drauf. Da habe ich mir immer vorgestellt, auf einem Pferd, das ich gezähmt habe und das mir gehört, durch die Wildnis zu reiten. Heute bringe ich keinen Tag hinter mich, an dem nicht tausend Leute an mir rumverbessern, mir aus der Patsche helfen wollen und mir sagen, dass sie jetzt für mich noch zu retten versuchen, was zu retten ist. Ohne die ganzen Helfer wäre ich dann wohl nicht mehr zu retten!“ (Svetlana, 12 Jahre alt)

Sich so schwach zu erleben, macht anfällig: Für noch mehr Angst, für gewalttätige Verzweiflung – und für alles, was einem ein besseres Leben verspricht und einen seine eigene Schwäche vergessen lässt. Zumindest auf Zeit.

Werden Lebens- und Lernfelder geschaffen, die wieder andere Erfahrungen zulassen, können diese besonders belasteten Kinder, wie auch Mario, sich mit professioneller Hilfe selbst entdecken und ihre Umwelt anfangen mitzugestalten. Dann kann auch Svetlana wieder auf ihr Pferd steigen und losreiten ... Marios Reaktionen konnten das Gefühl, nichts machen zu können, recht gut erklären und – wegen ihrer Heftigkeit – auch besonders klar seine Notsituation zeigen. Er hatte aufgrund seiner Angst und seiner Erfahrungen – die diese Angst immer wieder bestätigen – den Weg gewählt: „Wer nichts macht, kann auch nichts falsch machen.“

Das ist ein Trugschluss. Denn Inaktivität kann keine Verbesserung bringen – noch nicht mal eine Veränderung. Marios passives Verhalten wird ihm von seiner gesamten Umgebung – seinen Eltern, Freunden, im Kindergarten, in der Schule usw. – immer zum Vorwurf gemacht.

Das ist schlimm. Doch noch schlimmer ist es, dass das Gefühl, zur Inaktivität verdonnert zu sein, ein Gefühl ist, bei dem man sich selbst unglücklich, hilflos und schwach vorkommt. Wie will man so seinen Weg und sich selbst finden?

Sich schwach zu erleben macht anfällig – für Angst, Gewalt und Sucht.

Das Unglück, von sich aus nicht aktiv werden zu können und seine Stärken nicht zu kennen, findet man bei Kindern, denen Hilfestellung bei der Bewältigung wichtiger Entwicklungsaufgaben fehlt, wie der Psychologe und Pädagoge Klaus Fröhlich-Gildhoff in einem Trainingsmanual für Erzieherinnen beschreibt:

  • Stärkung von Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeitsgefühle,
  • Anregungen, auf etwas von sich stolz sein zu können,
  • Neugierde für sich selbst zu entwickeln, um sich selbst besser kennenzulernen und sich dessen bewusst zu werden, was man schon alles kann,
  • Sensibilisierung für die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Gefühlen, das bedeutet, auch eigene Gefühle ausdrücken zu können,
  • Umgang mit Konflikten: Aufzeigen und Einüben von Verhaltensalternativen und Methoden zur Selbststeuerung.

Diesen Artikel haben wir folgendem Buch entnommen:

Stark von Anfang an
Kinder auf dem Weg zur Resilienz begleiten
Haug-Schnabel, Gabriele
Schmid-Steinbrunner, Barbara
Oberstebrink
ISBN: 9783934333451
20,00 €

Zurück