Gastbeitrag: Mimik und Spracherwerb in Zeiten von Corona

Foto von Polina Tankilevitch von Pexels

Wie kann das dauerhafte Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes den Spracherwerb von Kleinkindern beeinträchtigen? Über diese spannende Frage haben sich die Pädagoginnen Elke Mußmann, Maria Sarfo und Rica Sanny im Rahmen einer Arbeitsgruppe der Hamburger ASB-Werkstatt-Kitas Gedanken gemacht. Wir freuen uns, ihren sehr differenzierten Beitrag veröffentlichen zu dürfen.

Wenn Menschen sich in der Corona-Zeit begegnen, ist die untere Gesichtshälfte oft von einem Mund-Nasen-Schutz verdeckt. Dies ist aus Gründen des gegenseitigen Schutzes vor einer Ansteckung im öffentlichen Raum sicher angemessen. Als pädagogisches Fachpersonal müssen wir uns jedoch die Frage stellen, welche Auswirkung diese Regelung auf die Entwicklung der uns anvertrauten Kinder hat. Hier muss sensibel abgewogen werden, wie hoch das Risiko einer Infektion im Vergleich zu einer zu erwartenden Entwicklungsstörung des Kindes ist. An dieser Stelle nimmt ein Expertenteam aus den Werkstatt-Kitas die Entwicklung des Spracherwerbes im Hinblick auf das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes einmal genauer unter die Lupe.

Im Umgang mit Kindern spielt die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht eine besondere Rolle: Kinder sind sehr empfänglich für alle nonverbalen Signale: Die Mimik, die Gestik, die Stimme und die Gefühle, die sich darin ausdrücken, werden von den Kindern wahrgenommen und gedeutet. Insbesondere für den Spracherwerb kann es daher sehr problematisch sein, wenn die Bezugsperson Mund und Nase bedeckt, da dem Kind in diesem Fall wichtige nonverbale Signale fehlen.

Ich möchte sehen, ob ich dir vertrauen kann

Um sich für neue Erfahrungen zu öffnen – also zu lernen –, brauchen Kinder zunächst eine sichere Bindung. Erst wenn sie sich darauf verlassen können, dass sie jederzeit Schutz und Trost bekommen können, sind sie bereit, die Welt zu entdecken und ihrem natürlichen Lerndrang zu folgen.

In der Kita ist es die pädagogische Bezugsperson, die als Erste eine solche sichere Bindung zum Kind aufbauen muss. Dies ist kaum möglich, wenn sie ihr Gesicht hinter einer Maske verbirgt. Das Kind muss ihr Gesicht und ihre feinfühligen Signale erkennen können, um Vertrauen zu gewinnen und darüber langsam eine Bindung aufzubauen.

Schau mich an, damit ich mich sicher fühle

Auch wenn das Kind bereits gut eingewöhnt ist, wird es immer wieder fragend zu seiner Bezugsperson blicken: „Ist es sicher, was ich tue?“, „Bist du noch da?“. Es braucht dann einen bestätigenden Blick, der ihm signalisiert: „Alles in Ordnung. Ich bin für dich da.“ Damit diese Rückversicherung über die Distanz gut funktionieren kann, ist es weiterhin wichtig, dass das Kind den Gesichtsausdruck erkennt. Es könnte sonst verunsichert und in seinem Entdeckungsdrang gebremst werden.

Spiegele mich, damit ich mich wahrnehme

Von Geburt an sind Babys stark auf menschliche Gesichter fixiert: Sie beobachten fasziniert, welche Gefühle sich darin ausdrücken, und ahmen verschiedene Gesichtsausdrücke nach. Ein starres Gesicht ohne erkennbare Mimik kann Panik bei ihnen auslösen. Im Spiegel des Gegenübers lernt das Kind, die eigenen Emotionen wahrzunehmen und Gefühlsausdrücke bei anderen zu erkennen – wichtige Voraussetzungen für eine gesunde emotionale und soziale Entwicklung. Je jünger das Kind, desto wichtiger ist es also, ihm mit freiem Gesicht gegenüberzutreten.

Zeig mir deine Mimik, damit ich mit dir in den Dialog gehen kann

Im frühen vorsprachlichen Dialog lernt das Kind grundlegende Dinge über die menschliche Interaktion: Erst ich – dann du; wir beziehen uns aufeinander und vor allem: Es macht Spaß zu kommunizieren! Erwachsene setzen dabei intuitiv eine ausgeprägte Mimik ein und betonen übertrieben. Dies bindet die Aufmerksamkeit des Kindes und öffnet es für den Dialog. Ein Mund-Nasen-Schutz würde diesen emotionalen Austausch erschweren und die Freude an der Interaktion trüben – für das Kind und die Erziehenden. Dies kann ein Risiko für die weitere sprachliche Entwicklung des Kindes bedeuten.

Ich muss dich gut verstehen, um sprechen zu lernen

Auch um sprechen zu lernen, ist es für das Kind sehr wichtig, die Sprache des Gegenübers gut wahrnehmen zu können. Unter dem Stoff des Mund-Nasen-Schutzes klingt die Sprache gedämpft, Laute und Wörter lassen sich nicht mehr so gut unterscheiden. Ein hoher Geräuschpegel, wie er in der Kita oft nicht zu vermeiden ist, erschwert das Verständnis zusätzlich. Auch die natürliche Sprachmelodie kann sich verändern, wenn die Erziehenden sich bemühen, nun besonders laut und deutlich zu sprechen. Dies würde dem Kind ein fehlerhaftes Sprachvorbild geben.

Wenn ich dich nicht verstehe, möchte ich deinen Mund sehen

Ein weiterer wichtiger Orientierungspunkt für das Kind ist das Mundbild. Besonders in frühen Phasen des Spracherwerbs schauen Kinder genau, wie die Laute mit dem Mund gebildet werden. Kinder mit anderer Muttersprache, die erst in der Kita intensiv mit der deutschen Sprache in Berührung kommen, durchlaufen diese Phase erneut. Das heißt, auch im Elementarbereich ist es wichtig, dass die Kinder das Mundbild erkennen können. Dies hilft ihnen übrigens auch bei einem hohen Geräuschpegel. Auch Kinder mit eingeschränktem Hörvermögen sind auf diese zusätzlichen Informationen angewiesen.

Risiken verantwortlich abwägen

Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes würde somit vielfältige Risiken für die sprachliche, aber auch die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder in der Kita mit sich bringen. Die Fähigkeit, mit anderen Menschen in einen differenzierten sprachlichen Austausch zu gehen, ist stark verknüpft mit der sozial-emotionalen Entwicklung.

Es liegt uns fern, in Zeiten, in denen wir lernen, mit Corona zu leben, in eine Entscheidung über den Schutz der eigenen Gesundheit einzugreifen. Gleichwohl war es uns ein Anliegen, in diesem Zusammenhang auch den Aspekt der sprachlichen Bildung zu beleuchten. Als Pädagog*innen sollten wir uns immer wieder ins Bewusstsein rufen, welche immense Bedeutung unser Kommunikationsverhalten für die uns anvertrauten Kinder hat und wie stark sie sich gerade in jungen Jahren daran orientieren.

Dieses Dokument ist in einer Arbeitsgruppe der ASB-Werkstatt-Kitas entstanden. Mitwirkende: Elke Mußmann, Maria Sarfo und Rica Sanny

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