Gastbeitrag: Digitales Portfolio: Mein Ich-Buch auf dem Tablet?

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Das digitale Portfolio ist nach wie vor noch eine recht neue und unbekannte Methode der Entwicklungsdokumentation. Hierbei werden die Einträge mit Hilfe von digitalen Medien, meist dem Tablet, erstellt. Oft werden digitale Portfolios mit einer fehlenden Gestaltungsfreiheit und somit mangelnden Individualität der Einträge gleichgesetzt. Darum stellt sich die Frage, was denn wirklich hinter dem digitalen Portfolio steckt und wie sich dadurch der Portfolioprozess verändern kann. Ein Gastbeitrag von Theresa Lill.

Kurz und knapp bezeichnet das digitale Portfolio in erster Linie den Erstellprozess der Portfolioeinträge. Diese werden meist mittels Portfolio-Apps mit einem Tablet erstellt. Mit der Tablet-Kamera werden Fotos aufgenommen, in ein Layout eingefügt und anschließend mit einem Text ergänzt. Es entsteht damit direkt auf dem Tablet die Portfolio-Seite. Je nach Anwendung, können diese Seiten auch einem Kind direkt zugeordnet werden, sodass ein digitaler Portfolioordner entsteht.

Auf dem Markt gibt es Anwendungen, bei denen das Portfolio ausgedruckt werden kann und solche, die rein auf das digitale Portfolio setzen. Derzeit erscheint es sinnvoll das Portfolio weiterhin auszudrucken, damit die Kinder ihren eigenen analogen Ordner haben, der jederzeit im Zugriff ist. Es ist aber durchaus denkbar, dass sich in einigen Jahren die Ausstattung und Infrastruktur der Einrichtungen so ändert, dass auch die rein digitale Variante den Kindern einen ständigen, selbstbestimmten Zugriff auf das eigene Portfolio erlaubt.

Im Gegensatz zum digitalen Portfolio steht der klassische Portfolioprozess, in welchem Fotos zunächst von der Kamera übertragen, dann ausgewählt, gedruckt oder entwickelt werden. Anschließend werden die Einträge erstellt. In der Praxis können hier durchaus einmal einige Tage ins Land ziehen.

Individuelles Gestalten

Natürlich liegt beim digitalen Portfolio, das meist mit einer Variation an Layouts arbeitet, die Vermutung nahe, dass dabei die Individualität verloren geht. In der klassischen Portfolioarbeit kann man schließlich ganz individuell die Seiten gestalten, die Fotos anordnen, wie man möchte, zurechtschneiden, Dinge dazu malen oder kleben, usw. Dem gegenüber steht das schnell verfügbare Tablet, bei dem man direkt im Geschehen Fotos aufnimmt und Texte dazu formuliert. Die Befürchtung besteht, dass nicht genügend Zeit bleibt, sich mit voller Aufmerksamkeit der Gestaltung des Portfolios zu widmen, die Einträge oberflächlich werden und alle nur noch nach einem Muster angefertigt werden. Da es Übertragungsfunktionen gibt, scheint der Impuls nahezuliegen, dass ein Eintrag, bspw. von einem Ereignis in der Gruppe, einfach direkt auf alle Kinder übertragen wird und der Aspekt der individuellen Entwicklungsdokumentation eines Kindes verloren geht.

Man läuft die Gefahr der Vereinheitlichung, da der Gedanke reizvoll ist, alles schnell fertig zu stellen. Jedoch hängt dies weniger vom genutzten Werkzeug (analog oder digital), als vielmehr vom pädagogischen Konzept der Portfolioarbeit ab. Denn hier wird festgelegt, wie Portfolioeinträge inhaltlich aufgebaut werden und wer diese gestaltet. Wie werden die Kinder eingebunden, wie stark kann sich eine Fachkraft im Erstell- und Entscheidungsprozess zurücknehmen? Ebenso kann die Einrichtung auch eine minimale und maximale Anzahl von Portfolioeinträgen pro Kind festlegen und damit sicherstellen, dass auch beim Portfolio Qualität vor Quantität geht.

Eine neue Methode muss stets zunächst eingeführt und die Arbeit damit reflektiert werden. Doch wenn man bei der Erstellung von Portfolioeinträgen die Entwicklung, Interessen und Individualität eines Kindes im Fokus hat, dann können digitale Methoden sogar zu einer größeren Individualität der Portfolios führen.

Was ist eigentlich Portfolio in der Kita?!

Beteiligung der Kinder

Die Kinder können einfacher direkt bei der Erstellung einbezogen werden, da sie im Geschehen stattfindet. Wo im klassischen Prozess die Einträge häufig in der Vor- und Nachbereitungszeit der Fachkräfte im Büro angefertigt werden, findet dies nun mitten im Geschehen statt. Damit können die Kinder wirklich am Portfolioprozess partizipieren und diesen maßgeblich beeinflussen.

Angefangen bei der Auswahl der Bilder: Im klassischen Portfolio werden die Bilder häufig im Geschehen aufgenommen und im Nachhinein durch die Fachkraft sortiert. Sie selektiert, welche Fotos die Entwicklung, Interessen und das Handeln des Kindes am besten ausdrücken. Beim digitalen Portfolio kann das Kind diese Fotos selbst auswählen, direkt entscheiden, welches am besten passt. Somit wird zum einen die Perspektive des Kindes abgebildet. Zum anderen stellt man auch direkt sicher, dass man das Recht des Kindes am eigenen Bild wahrt, da man nicht über seinen Kopf hinweg entscheidet, welche Bilder verwendet werden.

Auch hier kann man gemeinsam mit dem Kind einen Text formulieren. Die Fachkraft liest diesen dem Kind nochmal vor, damit es weiß, was zu seinem Foto geschrieben wird. So liegt die letzte Entscheidung beim Kind, was das Portfolio wirklich erzählt. Durch die Möglichkeiten der Sprachaufnahme kann man sogar auf das gesprochene Wort zurückgreifen: Das Kind erzählt etwas zu seinem Portfolio. Das Schöne daran ist, dass es das Kind jederzeit auch selbst anhören kann und damit nicht auf einen Erwachsenen angewiesen ist, der ihm vorliest, was geschrieben steht. Manchen Kindern fällt es schwer, Dinge in Worten auszudrücken, jedoch können auch Mimik und Gestik viel erzählen. Vielleicht möchte das Kind auch einfach etwas zeigen, was es kann. Hier bieten die Videoaufnahmen eine wunderbare Ergänzung, da das bewegte Bild ohne viele Worte auskommt. Das Kind gestaltet das Abbild seiner selbst, ohne stets auf die Interpretation seines Handelns durch einen Erwachsenen angewiesen zu sein. Insgesamt wird das Portfolio durch die Sprach- und Videoaufnahmen facettenreicher, da es das Kind lebendiger als ein reines Foto mit Text abbilden kann.

Die Dokumentation über Video- und Sprachaufnahmen intensiviert zudem die Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Entwicklung. Das Kind kann sich selbst hören und damit ganz anders mit seiner Sprache auseinandersetzen. Wenn es Videos betrachtet erkennt es sich selbst und kann Situationen intensiver nachempfinden, es fällt leichter sich zu erinnern. Und es erleichtert auch für die Fachkräfte den Dialog mit dem Kind zu einzelnen Entwicklungsschritten, da man besser auf Details hinweisen kann. Man kann gemeinsam mit dem Kind anschauen, wie genau es etwas gemeistert hat. Oder mit dem Kind über einen Zeitraum hinweg Sprachaufnahmen anhören und die Unterschiede feststellen.

Digitales Portfolio als Ergänzung

Wie eingangs erwähnt, gibt es auch beim digitalen Portfolio die Idee, die Einträge zu drucken, damit sie ihren Weg in den Portfolioordner des Kindes finden. Im Idealfall macht man dies auch direkt, sodass das Kind seinen Eintrag selbst einheften kann. So kann das Kind nicht nur den Schritt der Erstellung, sondern auch den Weg in das Portfolio ganz bewusst erleben. Es erlebt Selbstwirksamkeit, da das Portfolio durch die eigene, aktive Gestaltung immer weiterwächst. Am Rande sei hier auch erwähnt, dass die Digitalisierung der Portfolioeinträge noch einen ganz anderen Vorteil mit sich bringt: Sie sind jederzeit wieder ausdruckbar. Das mag banal klingen, jedoch hilft diese Tatsache einigen Einrichtungen, entspannter mit den Ordnern in der Kinderhand umzugehen. So kann man auch die kleineren Kinder alleine mit ihrem Ordner lassen. Es ist nicht weiter schlimm, wenn ein Blatt durch vieles hin- und herblättern kaputt geht, eine Seite knittert oder verloren geht. Denn sie kann jederzeit ersetzt werden. Und schließlich ist es Teil des Portfolioprozesses, das sich das Kind mit seinen Einträgen beschäftigt. Da bleibt es nicht aus, dass diese mit der Zeit etwas in Mitleidenschaft gezogen werden.

Arbeitet man auch mit Video- und Sprachaufnahmen, muss es hier selbstverständlich eine Ergänzung des analogen Ordners mit dem digital gespeicherten Portfolio geben, damit das Kind auch auf diese Einträge zurückgreifen kann. Hier gilt es aufmerksam dafür zu sein, dass es nicht zu Situationen wie eingangs geschildert kommt, in denen die Kinder keinen Zugriff auf das Tablet haben. Feste Portfoliozeiten können hierbei helfen. Oder auch Eltern-Apps, bei denen die Eltern auf das digitale Portfolio zugreifen können – so können sich Eltern und Kind jederzeit gemeinsam nicht nur die Fotos und Texte, sondern auch Videos und Sprachaufnahmen ansehen und -hören.

Der Zeitfaktor

Zeit spielt für die Qualität der Portfolios eine große Rolle. Hier geht es um die Nähe der Dokumentation zum Ereignis. Umso früher ein Eintrag im Ordner landet, umso greifbarer ist für das Kind die Situation, die im Eintrag angesprochen wird. Ältere Kinder erleben die Nähe durch das Mitwirken am Erstellprozess. Bei kleineren Kindern mag dies nicht immer möglich sein. Dadurch ist gerade bei hier die zeitliche Nähe besonders bedeutsam. Bei der Portfolioarbeit steht vor allem die Reflexion des Kindes im Vordergrund. Das Kind kann anhand der Einträge seine Entwicklungsschritte oder besonderen Momente reflektieren und ein Selbstwertgefühl entwickeln. Das kann natürlich nur funktionieren, wenn das Kind einen Bezug zu den Einträgen hat und sich an die Geschehnisse tatsächlich erinnert, wenn die Einträge eine aktuelle Situation aufgreifen, die dadurch weiter mit dem Kind thematisiert werden kann. Somit können auch hier digitale Werkzeuge die Bindung des Kindes zum Portfolio stärken.

Zusammenfassend kann man die These aufstellen, dass digitale Tools die Portfolioarbeit weiterentwickeln und Chancen für mehr Individualität bieten. Das Kind kann besser eingebunden werden und die Dokumentation wird facettenreicher. Wie erfolgreich die Arbeit mit dem digitalen Portfolio tatsächlich ist, hängt jedoch immer von der Umsetzung in der Praxis ab. Hier kommt es auf das pädagogische Konzept an, das stets vor dem digitalen Werkzeug stehen muss.

Fragen für die Einführung des digitalen Portfolios:

  • Welche Ziele verfolgen wir mit dem digitalen Portfolio? Was ist unsere pädagogische Intention beim digitalen Portfolio?
  • Was erwarten wir uns von der Arbeit mit dem digitalen Portfolio? Warum wollen wir die Methode überhaupt einsetzen?
  • Wie stellen wir uns das dialogische Portfolio in unserer Einrichtung vor?
  • Wie wollen wir das digitale Portfolio ganz konkret in der Praxis umsetzen? Wie kann es in den Alltag eingebunden werden? Womit fangen wir an?
  • In welchem Maß sollen die Kinder an ihrem Portfolio partizipieren? Wie können wir den Partizipationsbereich entsprechend in der Konzeption ergänzen?
  • Was bedeutet das für unseren Alltag? Welche Auswirkungen hat das auf die Gestaltung des Gruppengeschehens?
  • Wie wollen wir die Eltern an das Thema Portfolio-Arbeit heranführen? Welche Form der Eltern-Beteiligung wünschen wir uns?

Der Beitrag erschien erstmals in klein&groß 06/2019.

Über Theresa Lill

Theresa Lill (M.A.), studierte Pädagogik und Theater- und Medienwissenschaft mit den Schwerpunkten auf frühkindliche und inklusive Pädagogik. Sie beschäftigt sie sich seit einigen Jahren mit Formen der digitalen Entwicklungsdokumentation. Sie ist Expertin für Portfolioarbeit und begleitet Einrichtungen bei der Einführung von Beobachtungs- und Dokumentationssystemen.

Kontakt

www.qualitaet-kita.de

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