Die 16 seelischen Grundbedürfnisse

Entwicklungsgesetze in der frühen Kindheit

Jeder Mensch – so auch und vor allem das Kind – ist mit einem Bündel an seelischen Grundbedürfnissen ausgestattet, die einer Sättigung bedürfen. Entwicklungspsychologische Betrachtungen haben ergeben, dass es offensichtlich um 16 seelische Grundbedürfnisse geht. Diese seien hier kurz aufgeführt:

Zeit mit bindungsnahen Menschen erleben, um sich selbst in den eigenen Entwicklungsmöglichkeiten wahrzunehmen und die Welt um sich herum zu entdecken;

Ruhe in der Entwicklung erfahren, um die Basisfähigkeit „Wahrnehmungsdifferenzierung“ aufbauen zu können;

Liebe im Sinne einer personalen Annahme erleben, um ein Gefühl der Selbstannahme zu entwickeln und Empathie für die lebende und dingliche Welt aufzubauen;

Vertrauen durch andere spüren, um eigenen Stolz erleben zu dürfen und Leistungsbereitschaft zu entwickeln;

von Mitmenschen verstanden werden, um in den vielfältigen Lebenssituationen und Lebensherausforderungen immer wieder Kontakt zu sich selbst herzustellen und eine Mitverantwortung für Situationsverläufe zu entdecken;

Sicherheit durch Nähe und feste (sinnbedeutsame) Regeln erfahren, um in einen nachhaltigen Prozess der Selbstentwicklung zu finden;

Bewegung ausdrücken können, um durch gezielte und bewusst gewählte motorische Aktivitäten Stress abzubauen und in eine gedankliche, emotionale und motorische Selbststeuerung kommen zu können;

Intimität und Geheimnisse bejahend zuerkannt bekommen, um zu erkennen, dass es im Ausdrucksverhalten eine „öffentliche“ und eine „private“ Person gibt, die es in der Außenwirkung zu differenzieren gilt;

Mitsprache erleben und umsetzen dürfen, um ein individuelles, persönliches Wertigkeitsempfinden zu entwickeln;

Erfahrungsräume erkunden können, um die Vielfalt der eigenen Entwicklungspotenziale zu entdecken;

Gefühle (Freude, Angst, Wut, Trauer) erleben dürfen, um ihre Existenz zu akzeptieren und in die eigene Gefühlswelt bejahend zu integrieren;

die eigene Sexualität annehmen und integrieren, um sich in seinem Körper wohl zu fühlen;

Gewaltfreiheit als ein besonders wichtiges „Lebensgut“ erfahren, um in den vielfältigen, Angst auslösenden Alltagssituationen immer stärker angstfrei handeln zu können;

Neugierde umsetzen können, um sich und der Welt lernmotiviert zu begegnen;

Optimismus von anderen spüren sowie Respekt bzw. Achtung in der erlebten Kommunikation erfahren, um Lebensherausforderungen als Lernchancen anzusehen und mit konstruktiven Gedanken und Handlungsweisen selbst schwierige Situationen anzunehmen und lösen zu wollen.

Es sind also primär strukturelle Bedingungen und personale Kompetenzen der Erwachsenen, die für eine persönlichkeitsförderliche und stark machende, ressourcenorientierte Entwicklung von Kindern sorgen.

Elementarpädagogische Fachkräfte tragen im Alltagsgeschehen der Pädagogik zur „Sättigung der o.g. Grundbedürfnisse“ durch Ihr Verhalten dazu bei, dass Kinder zu folgenden Erfahrungsmomenten kommen:

  • Erleben eines wertschätzenden, emotional warmen Klimas (Freundlichkeit, Bindung, Aufgeschlossenheit);
  • Erleben einer stabilen Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördert;
  • Erleben eines emotional positiven, unterstützenden Beziehungsklimas („Du bist mir wichtig!“)
  • Erleben einer grundsätzlich konstruktiven Kommunikation;
  • Erleben einer fürsorglichen Beziehung/„Kann  i c h  Dir bei Schwierigkeiten helfen?“
  • Erleben eines positiven Rollenmodells – Klarheit, Ehrlichkeit, Offenheit;
  • Erleben von Respekt, Wertschätzung und Achtung im Alltagsgeschehen;
  • Erleben von klaren, Sinn gebenden Regeln;
  • Erleben von transparenten Regeln;
  • Erleben von klaren, durchschaubaren Strukturen;
  • Positive Verstärkungen der Leistungsansätze;
  • Positive Verstärkung der Anstrengungsbereitschaft;
  • Positive Peerkontakte (Integration in der Gruppe);
  • Erleben einer stabilen emotionalen Unterstützung in Konfliktsituationen (Beistand leisten);
  • Erleben von Beharrlichkeit durch die Bindungsperson (Festigkeit ohne Starrheit);
  • Erfahrung von Sinn und Bedeutung der eigenen Entwicklung;
  • Erfahrungen machen können im Hinblick auf bedeutsame Selbstwirksamkeit („Ich kann was!“)

(Vgl.: C. Wustmann, C, 2004 b, S. 402 ff.)

  • Selbstbildungskräfte und bildungsaktive Verhaltensweisen können am besten dadurch unterstützt werden, indem elementarpädagogische Fachkräfte und andere bindungsstarke Erwachsene
  • das Kind ermutigen und es dabei unterstützen, seine Gefühle zu benennen und auszudrücken;
  • dem Kind konstruktive und damit entwicklungsförderliche Rückmeldungen geben;
  • dem Kind  k e i n e  vorgefertigten Lösungen anbieten und damit vorschnelle Hilfestellungen vermeiden sondern mit ihm gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen;
  • das Kind konsequent wertschätzen und respektieren;
  • dem Kind Aufmerksamkeit schenken und ein aktives Interesse an den Aktivitäten des Kindes zeigen;
  • dem Kind soziale (schaffbare) Verantwortung übertragen;
  • das Kind dabei unterstützen, positiv und konstruktiv zu denken;
  • dem Kind bei schwierigen Herausforderungen zu Erfolgserlebnissen verhelfen;
  • dem Kind dabei helfen, eigene Stärken zu entdecken und zu stärken sowie eigene Schwächen zu erkennen und diese zu schwächen;
  • dem Kind helfen, erreichbare Ziele zu finden und sich erreichbare Ziele zu setzen;
  • dem Kind aus einer eigenen, positiven Sichtweise einen Zukunftsglauben vermitteln;
  • das Kind in Entscheidungsprozesse einbeziehen;
  • mit dem Kind eine anregungsreiche Umgebung gestalten und Situationen bereitstellen, in denen es immer wieder selbst aktiv werden kann;
  • sichere Strukturen und Abläufe in den Lebensalltag des Kindes bringen;
  • ein selbstbildungsmotiviertes Vorbild (!) sind;
  • immer wieder ihre vorhandene Authentizität im Sinne einer eigenen Lernfreude und eines hohen Engagements zum Ausdruck bringen;
  • bindungsintensive Beziehungen anbieten;
  • Freude an den eigenen Fortschritten und denen des Kindes zum Ausdruck bringen;
  • als „Mensch“ auftreten und nicht die „Rolle“ unter Beweis zu stellen versuchen.

(Vgl.: Wustmann, C, 2004, S. 402 ff.)

Konsequenzen für eine kindorientierte Praxis

Eine bindungsstarke und bildungsintensive Entwicklungsbegleitung von Kindern ist also nur unter den drei oben genannten Ausgangsdaten zu realisieren:

1.) Es muss in erster Linie stets um eine Sättigung der „seelischen Grundbedürfnisse“ von Kindern gehen, damit sie aus einer tief erlebten Lebensfreude heraus Fähigkeiten mit einer nachhaltigen Auswirkung aufbauen können. (Anmerkung: Die Befriedigung der körperlichen Grundbedürfnisse wird an dieser Stelle selbstverständlich vorausgesetzt.) Kinder brauchen eine atmosphärisch angenehm zu erlebende Umgebung im Innen- und Außenbereich, in der sie handgreiflich, unmittelbar, aktiv, mit allen Sinnen, innerlich beteiligt und engagiert Erfahrungen machen können, die ihnen tatsächlich helfen, selbstständig, unabhängig und sozial beteiligt das Leben zu spüren und selbstaktiv mitgestalten zu können. Sie brauchen vielfältige, reale Handlungsräume und keine künstlichen, von Erwachsenen arrangierten Welten. Dabei müssen Erwachsene den Kindern vielfältige, alltagsbedeutsame Herausforderungen zutrauen, die Kinder mit Mut und Engagement, Lebendigkeit und Stolz, Risikobereitschaften und Leistungserlebnissen ausfüllen können und diese Erfahrungserlebnisse müssen Kindern Sicherheit vermitteln. Erwachsene müssen mit Kindern leben, mit Kindern fühlen, sich einfühlsam in sie hineinversetzen können und sich dabei der Perspektive der Kinder zuwenden – sie müssen damit aufhören, Kinder in ihre Erwachsenenperspektive zu zerren. Schließlich brauchen Kinder weniger eine didaktische Vielfalt an irgendwelchen „Frühförderangeboten“ als vielmehr feste Bezugspersonen, die sich selbst als den entscheidenden bildungsförderlichen Mittelpunkt begreifen. Kinder brauchen zuverlässige Bindungserfahrungen und damit engagierte, lebendige, staunende, mitfühlende, wissende, handlungsaktive, mutige, risikobereite, zuverlässige Menschen um sich und keine besserwissenden RollenträgerInnen, die immer noch meinen, Belehrungen der Kinder mache Kinder klug.

2.) Wenn der Dreh- und Angelpunkt eines selbstständigen, weitestgehend autonomen und sozial verantwortlichen Menschen der Grad des Selbstwertgefühls ist, haben Erwachsene immer wieder im Alltag die Aufgabe, sich im Umgang mit dem Kind zu reflektieren, inwieweit ihr Verhalten selbstwertförderlich oder selbstwerthinderlich auf das Kind wirkt.

3.) Auch wenn es eine „Frühpädagogik“ nach irgendeinem Lehrbuch oder irgendwelchen psychologischen Ratgebern nicht geben darf/kann, weil der Mensch damit jegliche emotionale Bezugsnähe zum Kind „verkopfen“ und gleichzeitig seine emotionale Nähe zum Kind verlieren würde, ist es für eine professionelle Fachkraft notwendig, sich mit so genannten „Entwicklungsgesetzen“ zu beschäftigen. Sie sollten für ein Grundlagenwissen sorgen, das zu einer werteorientierten Richtschnur für die gelebte Alltagskultur „mit Kindern“ wird.

Literatur:

Fuhrer, Urs (2009): Lehrbuch Erziehungspsychologie (2. Aufl). Bern: Verlag Hans Huber
Haug-Schnabel, Gabriele & Schmid-Steinbrunner, Barbara (2002): Wie man Kinder von Anfang an stark macht. Ratingen: Verlag Oberstebrink
Krenz, Armin (2010): Was Kinder brauchen. Aktive Entwicklungsbegleitung im Kindergarten (7. Aufl.). Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor
Krenz, Armin (2009): Kinder brauchen Seelenproviant (2. Aufl.). München: Kösel-Verlag
Krenz, Armin (2012): Kinderseelen verstehen. Verhaltensauffälligkeiten und ihre Hintergründe. München: Kösel-Verlag
Krenz, Armin (2009/2011): Psychologie für Erzieherinnen und Erzieher. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor
Krenz, Armin + Klein, Ferdinand (2012): Bildung durch Bindung. Göttingen: Verlag Vandenhoeck + Ruprecht
Leu, Hans Rudolf + von Behr, Anna (Hrsg.) (2010): Forschung und Praxis der Frühpädagogik. Profiwissen für die Arbeit mit Kindern von 0–3 Jahren. München: Ernst Reinhardt Verlag
Mietzel, Gerd (2002): Wege in die Entwicklungspsychologie. Kindheit und Jugend (4. Aufl). München: Verlags Union
Rossmann, P. (2001): Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters (3. Aufl.). Bern/Göttingen: Hans Huber
Wilkening, Friedrich; Freund, Alexandra M.; Martin, Mike (2008): Entwicklungspsychologie. Workbook. Weinheim: Beltz Verlag/Psychologie Verlags Union
Wustmann, Corina (2004): Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz Verlag

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:

Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik
Kinder sehen, verstehen und entwicklungsunterstützend handeln
Krenz, Armin
Burckhardthaus-Laetare
ISBN: 9783944548029
200 Seiten, 19,90 €

Zurück