Wie Kinder lernen, Entscheidungen zu treffen

Zum Entscheiden erziehen, zum Handeln befähigen

Erwachsene bereiten Kinder in vielen Situationen auf das Leben vor, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Sie helfen ihnen durch den Dschungel der möglichen Alternativen und bringen ihnen bei, sich für einen nächsten, zu seinen Vorstellungen passenden Schritt zu entscheiden, um handlungsfähig bleiben zu können. Sie erlösen Kinder von der lähmenden Qual der Wahl und wirken so als Starthilfe für neue Aktionen. Wie wichtig es für Kinder ist, entscheiden zu dürfen, um auch handeln zu können, sehen Sie an folgenden Beispielen.

Etwa im Alter von sieben Monaten beginnen Kinder, sich von ihren Bezugspersonen kurzfristig eigenständig zu entfernen. Eine neue Dimension des Erkundens und Lernens steht an. Vorausgesetzt, eine feste Bindung zu den Bezugspersonen, hat die für eine beginnende Unabhängigkeit notwendige Sicherheit entstehen lassen. Solche Exkursionen finden anfangs nur innerhalb des Sichtbereichs der Eltern statt. Der Aktionsradius wird dann mit zunehmendem Alter immer größer und auch kurzzeitig auf Gebiete außerhalb des Blickfeldes der Mutter ausgedehnt. Die Kinder kehren bei Unsicherheit und Angst sofort zur Mutter – ihrer Sicherheitsbasis – zurück. Sie kommen aber auch – ohne erkennbaren äußeren Anlass – regelmäßig zu ihr zurückgekrabbelt oder -gelaufen, um sich ihrer Anwesenheit zu versichern. Sie lächeln, lehnen sich kurz an ihr Knie und verschwinden wieder.

Dieses kurze emotionale Auftanken geht mit etwa 1  1/2 Jahren immer mehr von einer direkten körperlichen Annäherung in eine optische oder akustische Rückversicherung über. Ein kurzer Blick oder ein Anrufen reicht – nach dem Motto: „Ist meine Zuflucht noch da, jederzeit erreichbar und immer ansprechbar? Kann ich weiterspielen, oder muss ich in der fremden Umgebung Angst haben?“ Diese Art der Rückversicherung ist eine Kontakthalte-Strategie auf Entfernung.

Lassen wir unsere Beispiel-Kinder noch etwas älter werden. Jetzt holen sie sich ihre Informationen zur Spielsituation immer öfter über abfragende Blicke zur Bezugsperson – ein Phänomen, das als „soziale Bezugnahme“ bezeichnet wird. Wenn etwas unerwartete Geräusche von sich gibt, ein fremdes Kind sich immer näher spielt oder ein Hund auftaucht, schaut das Kind seine Mutter an und versucht, mithilfe ihres Gesichtsausdrucks die Lage einzuschätzen. Je nachdem traut es sich, allein weiter zu erkunden oder nicht. Dann kommt es notfalls sogar angerannt. Das Kind holt sich Informationen zur Situation und überprüft, ob die eigenen und die mütterlichen Empfindungen vergleichbar sind.

Auf Spielplätzen kann man, wenn man sich etwas Zeit nimmt, eine überraschende Beobachtung machen: Der Start eines Kleinkindes im Sandkasten lässt Voraussagen über den weiteren Spielverlauf beim Buddeln zu.

Kinder, die nach der Ankunft am Spielplatz noch ein Weilchen bei ihren Eltern sitzen, sich umschauen, schmusen oder direkt neben der Bank ein kleines Spiel beginnen und dann von sich aus in den Sandkasten krabbeln, spielen dort bedeutend länger für sich allein oder auch mit anderen Kindern zusammen als die Kinder, die von ihrer Mama oder ihrem Papa nach der Ankunft recht schnell in den Sand zum Spielen gesetzt werden. Die kommen nämlich oft sofort wieder angekrabbelt oder spielen nur ganz kurz und suchen ganz schnell wieder den Kontakt zu Mutter oder Vater.

Der Unterschied: Fasst das Kind selbst den Entschluss und bestimmt den Zeitpunkt, von den Eltern weg in den Sandkasten zu gehen? Oder geben die Eltern den Startschuss zur Trennung und für ein neues Spiel – zu einem Zeitpunkt, der ihnen der richtige zu sein scheint?

Vielleicht könnte das Kind nach einigen weiteren Minuten in Elternnähe besser vorbereitet aufs Alleinspiel oder einen Kontakt mit anderen Kindern starten. Es ist klar, dass eine Trennung genau dann für das Kind am besten ist, wenn es sich orientiert hat und kaum mehr Bedürfnis nach Elternkontakt verspürt – wenn seine emotionalen Akkus voll aufgeladen sind und es gleichzeitig maximal spielbereit ist. Dann kann es losmarschieren und sich auf ein langes, genussvolles Spiel einlassen. War es seine Entscheidung, spielen zu gehen, dann kann es auch aktiv werden.

Eine geringfügige Änderung des elterlichen Verhaltens hat eine große Wirkung.

Alleinsein lernt man zu zweit.

Eine 1990 von japanischen Psychologen veröffentlichte Untersuchung zum Säuglingsverhalten überraschte die Fachkreise: Bereits im zweiten Lebensmonat zeigen Kinder Stress-Anzeichen, wenn ihre Mutter den Raum verlässt und eine fremde Person hereinkommt – und zwar in Form von Temperaturveränderungen ihrer Stirnhaut. Derartige Reaktionen hatte so kleinen Säuglingen niemand zugetraut. Die ersten Differenzierungsleistungen zwischen „bekannt“ und „fremd“ hatten vorher alle erst im sogenannten Fremdelalter – frühestens mit sechs oder acht Monaten erwartet. Dann ist bekanntermaßen bei vielen Kindern auf das Näherkommen von nicht bekannten Personen mit Fremden-Abwehrreaktionen zu rechnen. Dieses Abwenden des Kopfes, Weinen, Wegstoßen und lautstarkes Verlangen nach der Mutter sind nicht Zeichen einer übergroßen Ängstlichkeit, sondern Signale einer nun erreichten Entwicklungsstufe – nämlich der des individuellen Erkennens und somit der Unterscheidung zwischen einem bekannten, vertrauten Gesicht und einem bislang unbekannten Gesicht.

Bis zu dieser aufsehenerregenden Beobachtung in Japan war man davon ausgegangen, dass ein Säugling, der nicht zu schreien beginnt, wenn die Mutter weggeht, ihre kurze Abwesenheit entweder überhaupt nicht registriert, die Situation als nicht aufregend einstuft oder die Präsenz einer beliebig anderen Person als ausreichend beruhigendes Anwesenheitssignal akzeptiert. Nach diesem Ergebnis war aber klar, dass Säuglinge bereits kurz nach der Geburt – der ersten großen Trennung – kleine Trennungen von einem vertrauten Menschen durchaus wahrnehmen und physiologisch messbaren Stress erleben.

Sollten Eltern ihrem Kind diesen speziellen Stress ersparen? Sollten sie versuchen, jegliche Trennung zu vermeiden – bis ...? Und ab wann ist ein Kind eigentlich trennungsfähig, das heißt nach einer Trennung auch wieder handlungsbereit? Eine absolute Trennungsvermeidung ist unmöglich und scheint, auf den weiteren Entwicklungsverlauf bezogen, auch nicht angebracht zu sein, da schon die frühen Jahre immer wieder automatisch kleine Trennungen mit sich bringen. Und auf die sollte ein Kind vorbereitet werden. Den Umgang mit Trennungen muss man lernen.

„Alleinsein lernt man zu zweit“ – ein Leitsatz der Interaktionsforschung. Die beste Vorbereitung stellt eine feste Bindungserfahrung zu einem engen Kreis vertrauter Bezugspersonen dar. Es ist schon ein großer Schritt an Autonomie getan, wenn ein Kind sich im Beisein seiner Bezugsperson(en) allein beschäftigt. Typisch für das erste Lebensjahr ist, etwas allein machen zu wollen – das bedeutet aber nicht gleichzeitig, allein sein zu wollen. Es gehört zum Entwicklungsprogramm der ersten Lebensjahre zu lernen, dass Bezugspersonen auch dann noch existent sind und weiterhin Sicherheit vermitteln können, wenn sie im Moment gerade nicht da sind. Mit mehr Verständnis für das Geheimnis von Beziehungen nehmen auch die selbstregulatorischen Fähigkeiten zu. Wer über eine gute Bindung verfügt, erlebt sie nicht als einschränkende Abhängigkeit, sondern genießt und begreift sie als gestaltbaren Freiraum, der Autonomie erst möglich macht. Man könnte mittlerweile den Eindruck gewonnen haben, dass ein Trennungswunsch immer nur auf Seiten der Bezugsperson besteht. Dem ist aber nicht so. Bereits von Anfang an haben auch Kleinstkinder den Wunsch, sich hin und wieder zu distanzieren. Das zeigt sich bereits in einer typischen Blickinteraktion zwischen Säugling und Bezugsperson: Nach Phasen intensiven Blickkontakts folgen immer wieder Phasen deutlicher Blickabwendung durch das Baby. Bereits Säuglinge brauchen diese Momente des „Für-sich-Seins“, der Abgrenzung, in denen sie sich von den Anstrengungen einer Interaktion – die ja auch sehr fordernd sein kann – erholen und sich auf sich selbst und auf eigene Aktivitäten konzentrieren können.

Ältere Kinder kokettieren mit ihrer zunehmenden Autonomie. Sie spielen mit der Trennung, indem sie gezielt Interaktionen herbeiführen, während der sie zeitweilig eigenbestimmt verschwinden, um dann wieder aufzutauchen. Sich die Augen zuhalten, sich ein Tuch über den Kopf ziehen oder sich irgendwo im Haus oder Garten verstecken – das sind Spiele, die sie für einen kurzen Moment in eine ganz eigene Welt transportieren. Diese spielerische Trennung behält jedoch nur so lange ihren Reiz, solange klar ist, dass die Mutter auch wieder da ist, wenn man die Augen öffnet oder das Tuch abzieht. Verstecken ist nur dann witzig, wenn man zuerst deutlich geäußert vermisst wird, dann intensiv und leicht erregt gesucht und schließlich voll Freude und Erleichterung wiedergefunden wird.

Kindliche Trennungsspiele haben feste Regeln: Das Kind muss die Kontrolle über die Situation behalten, jederzeit Einfluss nehmen und „Stopp“ sagen können. Sonst nimmt die Angst überhand – und es ist nur noch erschreckend. Die Momente des selbstgewählten Alleinseins dehnen sich im Laufe der Entwicklung zu immer längeren Phasen aus, in denen sich ein Kind mit sich selbst spannend und voll Spaß beschäftigt. Mit sich selbst etwas anfangen zu können, verstärkt Kompetenz-gefühle. Es ist auch toll, eigene Ideen zu haben, sie durchführen zu können und sich dabei wohlzufühlen. Durch eine Unzahl gewinnbringend verarbeiteter kleiner Trennungserfahrungen erlebt ein Kind viele Male, dass es auch gut sein kann, mal allein zu sein – eine wesentliche Voraussetzung, sich selbst zu mögen.

Ein gelungener Umgang mit Nähe und Distanz, mit Bindung und Autonomie lässt sich jedoch nicht von außen oder auf Elternwunsch beschleunigen. Das zeigen die oben beschriebenen Spielplatz-Beobachtungen und neue Ergebnisse aus Kinderkrippen. Zu frühe, zu wenig vorbereitete, vom Kind ungewollte, von Erwachsenenseite jedoch forcierte Trennungen führen nicht zu einer schneller gesteigerten Autonomie, sondern nur zu einem – auch hormonell messbaren – Stressanstieg.

Wichtig bei einer Trennung ist nicht nur, wer geht – sondern auch, wer beim Kind bleibt. „Alte“ und „neue“ Bezugsperson müssen für das Kind zuerst einmal gemeinsam eine Brücke zwischen seinen Welten schlagen. Gelingt es der Krippenerzieherin, Tagesmutter oder Babysitterin während einer behutsamen Eingewöhnung, im Beisein von Mutter oder Vater eine Beziehung zum Kind aufzubauen – mit ihm zu spielen, zu streiten und zu lachen –, dann kann das Kind eine vorübergehende Trennung von der Hauptbezugsperson akzeptieren, ohne großen Stress und ohne lähmende Trauer. Die Trennungszeit wird dann nicht nur überstanden, sondern genussvoll erlebt. Aber genau das will erst einmal gelernt sein. In kleinen Häppchen muss die Trennung serviert werden, damit sie für das Kleinstkind verdaulich wird.

In der Eingewöhnungsphase dienen kurze Trennungen von der Mutter zum Austesten, ...

  • ob der Trennungsschmerz zu bewältigen ist.
  • ob die neue Bezugsperson vom Kind akzeptiert wird.
  • ob sie in der Lage ist, als vorübergehende Sicherheitsbasis zu fungieren, die es dem Kind erlaubt, auch in der neuen Umgebung aktiv zu werden

Klappt das – und nur dann –, kann man langsam die stundenweisen Trennungen zu halb- oder sogar ganztägigen Trennungsphasen verschmelzen lassen.

Um die Zeit des Getrenntseins besser verkraften zu können und um das Band zur geliebten Person noch einmal zu bestärken, bevor es auf seine Festigkeit getestet wird, haben sich Abschieds-rituale entwickelt. Bereits kleine Kinder winken, wenn sie sich verabschieden. Ihr Abschieds-Spektrum wird durch Zärtlichkeiten und verbindende Worte immer größer. Kinder, die in der Lage sind, Abschiedsgesten zu zeigen, akzeptieren die nun anstehende Veränderung. Sie haben gelernt, mit kleinen Trennungen umzugehen, und sind nach dem Fortgang der Bezugsperson weniger angespannt und spielfreudiger.

Am schwersten fallen Kindern Trennungen im Alter von 12 bis 15 Monaten. Jetzt wissen sie schon, was eine Trennung bedeutet, verfügen aber noch über zu wenig Trennungs-Know-how, um locker damit fertig zu werden. Wenn sie etwas älter und erfahrener mit Abschieden und Rückkehr sind, können sie allmählich immer besser damit umgehen. Der Abschied wird in der Gewissheit, sich „in alter Form“ wiederzusehen, leichter zu bewältigen. Jetzt erzählen sie ihren Eltern auch stolz, dass sie nach der Trennung am Morgen eigene Wege gegangen sind und in der Zwischenzeit etwas Tolles ohne sie erlebt haben. Das sollen die Eltern bewundernd zur Kenntnis nehmen.

                Kinder, die Abschiedsgesten zeigen, haben gelernt, mit kleinen Trennungen umzugehen

Diesen Artikel haben wir folgendem Buch entnommen:

Stark von Anfang an
Kinder auf dem Weg zur Resilienz begleiten

Haug-Schnabel, Gabriele
Schmid-Steinbrunner, Barbara
Oberstebrink
ISBN: 9783934333451
20,00 €

Mehr dazu auf www.oberstebrink.de



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