Alle Kinder sind Matheforscher: Was sind eigentlich mathematische Vorläuferfähigkeiten?

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Schon Kleinkinder begeistern sich für die Mathematik in ihrer Umgebung. Wir Erwachsenen können das kindliche Interesse an Zahlen und Formen spielend leicht aufgreifen und zwar ganz ohne Mathebücher. Ein Gastbeitrag von Dr. Mandy Fuchs.

 

Mathematik prägt unseren Alltag und sowohl Jungen als auch Mädchen sind bereits lange vor Schulbeginn von mathematischen Zusammenhängen fasziniert. Sie sind als kleine Matheforscher unterwegs und erkunden neugierig sowie begeistert Zahlen, Formen und Muster. Dabei gibt es Kinder, wie zum Beispiel die vierjährige Anna, die kaum eine Möglichkeit zum Zählen von Bäumen, Autos oder Punkten auf Marienkäfern auslässt und hierbei bereits sicher über 20 hinaus zählen kann. Blumenmuster mag sie besonders gern. Oder Max, fünf Jahre alt, der mit enormer Ausdauer die Fahrzeuge und Bausteine im Gruppenraum nach Farben, Formen und anderen Details sortiert und fast alle Verkehrszeichen kennt. Er weiß genau, ob es ein Dreieck, ein Viereck oder ein Achteck ist oder ob die Form wie ein Quadrat aussieht. Zählen kann er noch nicht so gut, deshalb vermeidet er auch den Gebrauch von Zahlen. Fynn hingegen hat bereits als Vierjähriger enorme Freude am Rechnen und seine Lieblingsbeschäftigungen sind Sudokus und Zahlenrätsel, wie z.B. „Wie viele verschiedene Aufgaben findest du zur Zahl 50?“. Hierbei ist es für ihn ein Leichtes alle vier Rechenoperationen anzuwenden und auch Aufgaben mit drei Zahlen zu bilden. So wie Anna, Max und Fynn verfügt jedes Kind über ganz besondere Stärken und vielfältige mathematische Kompetenzen, die es selbstbewusst zeigt. Demzufolge sind alle Kinder kleine Matheforscher, denn sie sind autonome wissbegierige Lerner von Geburt an und eignen sich Lerngegenstände (auch mathematische) aktiv auf der Grundlage subjektiver Wahrnehmungsprozesse, vorhandener individueller Handlungs- und Denkstrukturen sowie bisheriger Erfahrungen an. Diese konstruktivistische Sichtweise betont neben der Eigenständigkeit des Kindes ebenso seine Neugier und seinen Forscherdrang von Natur aus.

 

In meiner kleinen Beitragsreihe „Alle Kinder sind Matheforscher“ soll aufgezeigt werden, wie frühe mathematische Bildungsprozesse im Kindergartenalter angemessen begleitet werden können. Dazu soll im ersten Beitrag diskutiert werden, was eigentlich mathematische Vorläuferfähigkeiten sind und wie sie erworben werden können. Im zweitenArtikel wird dann der im deutschen Sprachraum noch wenig bekannte Numeracy-Ansatz skizziert. Im dritten und damit letzten Beitrag sollen dann vielfältige praktische Anwendungsbeispiele für die Umsetzung mathematischer Bildung in der Kita vorgestellt werden.

 

Zur Spezifik frühkindlicher mathematischer Bildung
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Die eingangs beschriebene veränderte Sichtweise in Bezug auf das Lernen von Kindern und der damit im Zusammenhang stehende konstruktivistische Lernansatz führten auch in der aktuellen mathematikdidaktischen Diskussion der letzten Jahre zu einem zweifachen Paradigmenwechsel. Erstens: Auch Mathematiklernen wird als selbstgesteuerter Prozess verstanden, in dem das lernende Kind sein Wissen aktiv konstruiert und in sein vorhandenes individuelles Erfahrungsnetz einbindet. Dies geschieht auf der Grundlage individueller Erfahrungen und in sozialer Interaktion sowie in Auseinandersetzung mit der Umwelt. Es kann folglich nicht mehr darum gehen, dass individuelle Denkweisen von Erwachsenen zu Lernpfaden für Kinder gemacht werden. Zweitens zeigen sich sowohl im Elementar- als auch später im Primarbereich veränderte Sichtweisen bezüglich der Lerninhalte: Es geht nicht mehr vordergründig darum Sach- und Fachwissen zu vermitteln und einzuüben, sondern um die Förderung allgemeiner Kompetenzen, wie die Freude am Problemlösen und am Erforschen von Mustern. Genau dies regt mathematische Denk- und Handlungsweisen an und lässt die kleinen Matheforscher in die mathematische Welt eindringen. Konkret heißt dies also, darüber nachzudenken, welche Ansätze und Konzepte zur Gestaltung früher mathematischer Bildung zeitgemäß sind, denn Mathematik im Elementarbereich bedeutet nicht, Kindern schon vor der Schule die Zahlen oder das Rechnen „beizubringen“. Es meint m.E. auch nicht, die sogenannten mathematischen Vorläuferfähigkeiten zu trainieren. Aber was genau sind eigentlich mathematische Vorläuferfähigkeiten? Und was brauchen Kinder dann, um die mathematische Welt zu erobern und in der Grundschule später erfolgreich Mathematik lernen zu können?

 

Eigentlich beinhaltet die Antwort auf diese Fragen nicht wirklich das WAS? (den Inhalt) sondern eher das WIE? (den Prozess). In der frühen mathematischen Bildung geht es nämlich darum, dass Kinder vielfältige mathematischer Basiskompetenzen in ihrem Alltag erwerben dürfen. Das heißt, dass Kinder Vorgänge in ihrer Alltagswelt mit ihren bisherigen mathematischen Erfahrungen in Einklang bringen. Sie sollten demnach verschiedene Möglichkeiten erhalten erste mathematische Erfahrungen zu sammeln, die dann ein stabiles Fundament für jegliches weiteres Mathematiklernen bilden. Man kann diese Basiskompetenzen auch mathematische Vorläuferfähigkeiten nennen, nur dann erwecken sie m.E. den Anschein, dass sie vor dem eigentlichen Mathematiklernen entwickelt werden müssten. Also erst die Vorläuferfähigkeiten trainieren und dann richtig Mathematik lernen. Solche mathematischen Kompetenzen gehören jedoch perse zur Mathematik dazu und ermöglichen den Kindern immer Mathematik in ihrer Welt zu entdecken. Mathematik im Elementarbereich bedeutet also das mathematische Tun und Denken der Kinder anzuregen, „heraus zu kitzeln“, zu begleiten und weiter zu entwickeln. Hierfür bedarf es neben einer professionellen pädagogischen Fachkraft, ein anregungsreiches mathematisches Lernumfeld, gehaltvolle Aktivitäten und Interaktionsprozesse sowie ein ganzheitliches und komplexes Verständnis von Mathematik. Darauf möchte ich im Folgenden eingehen, bevor ich die mathematischen Basiskompetenzen näher erläutere.

 

Mathematik als Wissenschaft der Muster

Die Auffassungen zur Frage „Was ist eigentlich Mathematik?“ haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. In der Mathematik geht es darum, Regelmäßigkeiten, Wiederholungen, Beziehungen und Strukturen zu erkennen und zu beschreiben. Mathematik ist demzufolge die Wissenschaft schöner und nützlicher Muster und Strukturen, die sich aktiv und interaktiv auf spielerische Weise erschließen und anwenden lassen. Versteht man Mathematik in diesem Sinne, dann werden die entscheidenden Grundideen der mathematischen Bildung im Elementarbereich klar: Mathematik lässt sich mit Kindern im Alltag entdecken, z.B. in der Symmetrie eines Marienkäfers oder einer Schneeflocke oder im Muster einer Eisenbahnbrücke. Mathematik zu betreiben, hat viel mehr mit kreativem Denken, mit gemeinsamem Forschen und Entdecken sowie mit vielfältigen Anwendungen zu tun als mit dem Einüben von Rechenprozeduren oder den sogenannten Vorläuferfähigkeiten.

Mathematik ist demzufolge kein statisch abgeschlossenes System von Definitionen, Formeln und Beweisen, sondern eine sich dynamisch entwickelnde Wissenschaft, in der Problemlöseprozesse, mathematisches Tätigsein und entdeckendes Lernen eine wesentliche Rolle einnehmen. Mathematik ist folglich mehr als die Beschäftigung mit Zahlen, das Zählen und das Rechnen von Aufgaben. Sie umfasst einerseits Inhaltsbereiche, wie Formen und Veränderung (Geometrie); Zahlen und Operationen (Arithmetik); Größen und Messen (Größenbereiche) sowie Daten, Zufall und Wahrscheinlichkeiten (Stochastik) und schließt andererseits wesentliche Prozessziele mit ein: Kreativ sein und Probleme lösen; Kommunizieren und Argumentieren; Begründen und Prüfen sowie Ordnen und Muster nutzen. Hinzu kommen mathematische Denk- und Handlungsweisen, wie z.B. das Klassifizieren und Vergleichen. Das mathematische Lernen im Kindergarten- und später auch im Grundschulalter soll genau diesem komplexen und ganzheitlichen Verständnis von Mathematik Rechnung tragen

 

Mathematische Basiskompetenzen

Nachdem wir nun die Spezifik der frühkindlichen mathematischen Bildung skizziert und das komplexe Wesen der Mathematik als Wissenschaft der Muster thematisiert haben, sollen nachfolgend exemplarisch einige wesentliche mathematische Basiskompetenzen vorgestellt werden. 

Frühe mathematische Bildung umfasst Möglichkeiten zum/zur:

  • Eins-zu-eins-Zuordnung (z.B. den Tisch decken, etwas austeilen)
  • Zählen und Abzählen (z.B. die anwesenden Kinder zählen)
  • Erkennen von Mengeninvarianz (Unveränderbarkeit von Mengen)
  • Reihenfolgen bilden (Seriationen)
  • Simultanerfassung (auf einen Blick erfassen, wie viele es sind)
  • Nutzung des visuellen Gedächtnisses (z.B. beim Memory-Spiel)
  • räumlichen Orientierung (z.B. rechts von, links von, oben, unten, …)
  • Figur-Grund-Unterscheidung (z.B. auf Wimmelbildern)
  • Auge-Hand-Koordination (z.B. beim Ball fangen, auf der Linie entlang schneiden)
  • Vergleichen, Sortieren (Klassifizieren) und Ordnen
  • Anzahlen mit allen Sinnen erfassen (z.B. hören, ertasten)
  • Entdecken von Zahlen in der Umwelt (z.B. bei einer Matheforscher Erkundungstour)
  • indirekten Rechnen (z.B. dreimal 5 Hampelmänner machen)
  • Erfassen und Wahrnehmen von Größen (Längen, Gewichte, Zeitangaben, Volumen, Geld, Flächeninhalte beim Puzzeln)
  • Anwenden von Zahlenwissen (mit Zahlen kann man sagen wie viele es sind, rechnen, Maßangaben machen, etwas codieren, …)
  • Erkennen von Teil-Ganzes-Beziehungen (z.B. Mädchen und Jungen einer Kitagruppe)
  • Erkennen von Mustern (vgl. nachfolgende Beispiele)

 

Abschließend möchte ich noch einige praktische Beispiele für Muster (und somit Mathematik) in der Lebenswelt der Kinder geben, bei welchen kleine Matheforscher viele der oben genannten mathematischen Basiskompetenzen erwerben können.

Naturwissenschaft und Technik

  • Pfotenabdrücke (Fährten) von Tieren erkunden
  • den Tagesablauf und somit den Tag-und-Nacht-Rhythmus erleben
  • Muster , Gesetzmäßigkeiten, Wiederholungen im Zeitablauf (4 Jahreszeiten, 7 Tage, 12 Monate, …) erkennen
  • symmetrische Eigenschaften von Schmetterlingen, Marienkäfer, … erkunden
  • Anordnung und Anzahlen von Blättern bei Blüten und Bäumen erforschen
  • Spinnennetze, Schneeflocken genau beobachten und selbst zeichnen
  • Eisenbahnbrücken, Fensteranordnungen, Fußbodenbeläge, Straßenpflaster untersuchen
  • Insektenhotels bauen
  • Verpackungsmaterialien (Eierkartons, Toffifeepackungen, Muffinbleche, …) sammeln und erforschen
  • Autofelgen, Automarken-Symbole erkunden

Musik

  • Muster im Rhythmus und in der Melodie von Liedern und Musikstücken hören
  • rhythmisches Klatschen, Stapfen, Spielen eines Instrumentes
  • Tanzschritte, z.B. in Kreistänzen, Muster bei Formationstänzen

Sprache und Literacy

  • Reimwörter (z.B. Hand, Sand, Wand, Land, …) finden
  • gleiche Wortstrukturen und Silbenmuster (z.B. Abendbrot –Schmetterling; abwaschen- aufräumen) erkennen
  • Reihenfolgen in Märchen und Geschichten (z.B. auch Kettengeschichten) herausfinden 

Gesundheit und Ernährung

  • Garnieren von Speisen und Anrichten nach Mustern
  • Symmetrie des eigenen Körpers untersuchen
  • auf die Reihenfolge beim Zähneputzen achten 

Kunst und Ästhetik

  • Parkettierungen von Fußböden genau anschauen
  • Hausfassaden und Fenster (z.B. Kirchenfenster) betrachten
  • Mandalas malen
  • Kunstwerke von Künstlern wie Paul Klee, Victor Vasarely, Wassily Kandinsky, … anschauen und nachmalen

Bewegung & Sport

  • Symmetrische Anordnung von Spielfeldern untersuchen
  • Gleichförmige Abläufe beim Werfen, Springen, … bemerken
  • Muster und Figuren beim Eiskunstlaufen, Bodenturnen, … erkennen

Mathematische Kompetenzen zielen auf einen verständnisvollen Umgang mit Mathematik und auf die Fähigkeit, mathematische Begriffe als „Werkzeuge“ in einer Vielzahl von Kontexten einzusetzen. Es geht darum, dass Kinder mit Hilfe von Mathematik Probleme lösen und die Welt erkunden können. Mathematik im Grundschulalter ist also weit mehr als das Erlernen der Kulturtechnik des Rechnens. Kinder im Grundschulalter brauchen demzufolge ebenso wie Kinder im Kindergartenalter herausfordernde Lerngelegenheiten, in denen sie auf individuelle und kreative Weise Mathematik treiben können. Dazu geeignet sind Alltagssituationen und Spiele aber vor allem auch offene mathematische Spiel- und Lernfelder wie sie beim Numeracy-Ansatz in der Präsentation vorgestellt werden.

 

Impulse für die Praxis:

  • Sammeln Sie schöne und interessante Fotos und Bilder (z.B. von Kalendern)! Welche (mathematischen) Muster entdecken Sie?
  • Stellen Sie Muster aus selbst gewählten Materialien (Natur- oder Alltagsmaterialien, Legematerial, …) nach einer bestimmten Regel her! Lassen Sie die Regeln von Ihren kleinen Matheforschern entdecken und die Muster fortsetzen. Dann lassen Sie die Kinder selbst mit diesen Materialien Muster erfinden, legen und aufmalen.
Über die Autorin

Dr. Mandy Fuchs arbeitet als Referentin und Autorin für innovative Bildung und Pädagogik. Sie war viele Jahre selbst im aktiven Schuldienst tätig – zunächst als Grundschullehrerin, später als stellvertretende Schulleiterin. Darüber hinaus war Dr. Mandy Fuchs als Mitarbeiterin und Dozentin in der Lehrerausbildung an der Technischen Universität Braunschweig und der Wilhelmsuniversität Münster tätig, worauf ihre Promotion zum Themenfeld Hochbegabung in der Grundschule aufbaut. Als Inhaberin einer Professur arbeitete die Referentin auch mehrere Jahre im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg und bildete dort zukünftige Kindheitspädagogen aus. Zahlreiche Publikationen verfasste sie u.a. zu Themen wie mathematische Begabungen im Kindesalter, frühkindliche Potenzialentfaltung oder Individualität und Kompetenzorientierung bei Kindern.

Hinweise, Feedback und Anregungen gern an: kontakt@mandyfuchs.de

Literaturhinweise und Tipps für weitere Informationen und Materialien zum Thema:

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