Kinder und Jugendliche in Deutschland sitzen zu viel und bewegen sich zu wenig

Rachel on Unsplash

Kinder und Jugendliche in Deutschland sitzen zu viel und bewegen sich zu wenig. Das ist das Ergebnis des Bewegungs-Zeugnisses 2022, das nach 2018 zum zweiten Mal ausgestellt wurde. Die Ergebnisse basieren auf einer weltweiten Untersuchung der „Active Healthy Kids Global Alliance“, die in 57 Ländern die körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen analysiert hat.

Für das Bewegungs-Zeugnis wurden wissenschaftliche Studien, nationale Erhebungen sowie Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen ausgewertet, um das Bewegungs- und Sitzverhalten von Kindern und Jugendlichen anhand von neun Kategorien mit einem Schulnotensystem zu beurteilen. In diesem Jahr lag ein besonderer Fokus auf bestehenden Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen. Zudem wurden Auswirkungen der Corona-Pandemie mit in die Auswertung aufgenommen.

Viel zu wenig körperliche Aktivität

Deutschland bekommt lediglich die Note 4- in der Kategorie „Körperliche Aktivität“. Nur rund ein Drittel der Kinder (27 bis 33 Prozent) erreicht die Bewegungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Jungen bewegen sich dabei tendenziell etwas mehr als Mädchen. Kinder und Jugendliche in anderen Staaten sind teils deutlich aktiver. Die besten Werte weltweit erzielen Slowenien und Finnland, gefolgt von Japan, Südafrika und den USA. Aber auch viele europäische Länder wie Kroatien, Spanien und die Slowakei schneiden besser ab.

Studienleiterin Prof. Yolanda Demetriou, Inhaberin der Professur für Sport- und Gesundheitspädagogik an der TUM, bilanziert: „Im Vergleich zum ersten Bewegungs-Zeugnis 2018 hat die Corona-Pandemie die Situation sogar noch verschärft. Wir müssen mehr tun, damit sich unsere Kinder und Jugendlichen mehr bewegen! Wenn sich Mädchen und Jungen als Kinder zu wenig bewegen, besteht ein hohes Risiko, dass sie dies auch als Erwachsene tun. Das wiederum begünstigt die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Adipositas, Herzinfarkt oder Schlaganfall. In Deutschland ist körperliche Inaktivität die fünfthäufigste Todesursache.“

Co-Studienleiterin Prof. Anne Reimers von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg fordert: „In Deutschland müssen Kinder und Jugendliche animiert und unterstützt werden, Freude an Bewegung zu entwickeln, ganz nach unserem Motto ‚Nicht sitzen bleiben – komm in Bewegung! Aber auch das Umfeld von Kindern und Jugendlichen sollte noch bewegungsfreundlicher gestaltet werden.“

Gute Infrastruktur für Sport

Bessere Noten bekam Deutschland bei den Rahmenbedingungen, die der organisierte Sport, Schule, Kommune und Umwelt bieten: 60 bis 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen treiben regelmäßig Sport in Organisationen, wie beispielsweise einem Verein. Gerade im Grundschulalter sind sehr viele Kinder Mitglied in einem Sportverein. Während der Corona-Pandemie ist das Sporttreiben in Vereinen aufgrund der Lockdowns jedoch deutlich zurückgegangen bzw. stellenweise sogar komplett zum Erliegen gekommen.

In Deutschland ist Sportunterricht für alle Kinder und Jugendlichen verpflichtend, der Großteil der Unterrichtsstunden findet auch statt. Strukturell verfügen beinahe alle Schulen (97 Prozent) über eine Sporthalle und 66 Prozent der Schulen über einen bewegungsfreundlichen Pausenhof. Während der COVID-19-Pandemie fand Sportunterricht jedoch kaum statt und wurde teilweise untersagt. Es existieren kaum qualitätsgesicherte Online-Angebote oder entsprechende Unterrichtskonzepte.

Auch der Bereich „Kommune und Umwelt“ schneidet gut ab. Zwischen 66 und 77 Prozent der Kinder und Jugendlichen nannten, dass sie frei von Hindernissen, wie beispielsweise Autoverkehr oder großen Straßen, draußen spielen können. Bei über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen befindet sich ein Sportplatz in der Nähe. Zudem gibt es für 80 Prozent einen Park oder eine Grünfläche nahe des Wohnorts, rund 56 Prozent habe ein Schwimmbad am Wohnort.

Im internationalen Vergleich der 57 Länder schneiden hier Slowenien, Japan sowie die beiden skandinavischen Länder Dänemark und Finnland mit einer Gesamtnote 2- am besten ab. Deutschland liegt mit Note 3- eher im mittleren Bereich, rangiert jedoch in den Bereichen Sport, Schule, Kommune und Umwelt im oberen Drittel. Es zeigt sich damit ein deutlicher Kontrast: Während die äußeren Einflussfaktoren und das Umfeld recht gut bewertet sind, zeigen sich beim individuellen Bewegungsverhalten deutliche Schwächen.

Um auch die Lebenswelten noch bewegungsförderlicher zu gestalten, empfehlen die Studienleiter:innen der 57 teilnehmenden Länder unter anderem die Verbesserung der Möglichkeiten, sich in der Schule körperlich zu betätigen, sowie die Erhöhung der Anzahl der wöchentlichen Schulsportstunden. Weiterhin sollte der Zugang zu öffentlichen Räumen, Grünflächen, Spielplätzen oder Sportanlagen ausgebaut werden.

Das Netzwerk „Active Healthy Kids Germany“

Das deutsche Bewegungszeugnis wurde vom Netzwerk „Active Healthy Kids Germany“ (AHKG) erstellt. In Deutschland waren insgesamt 15 Forschungseinrichtungen beteiligt, von der TUM-Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften waren neben Prof. Demetriou auch Prof. Karsten Köhler, Leiter der Professur für Bewegung, Ernährung und Gesundheit, sowie Dr. David Sturm von der Professur für Sport- und Gesundheitspädagogik involviert.

Unterstützt wurde „Active Healthy Kids Germany“ von der vivida bkk Krankenkasse und der Stiftung „Die Gesundarbeiter“. „Die Ergebnisse des aktuellen Bewegungs-Zeugnisses sollten uns wachrütteln“, betont auch Roland Frimmersdorf, Vorstand der Stiftung „Die Gesundarbeiter – Zukunftsverantwortung Gesundheit“. „Es muss uns gelingen, junge Menschen in ihrer Lebenswelt zu erreichen und sie dabei zu unterstützen, sich im Alltag mehr zu bewegen. Je früher wir bei ihnen die Freude an Sport und Bewegung wecken, desto besser“, so Frimmersdorf weiter.

Partner von Active Healthy Kids Germany sind Wissenschaftler:innen folgender Einrichtungen: Technische Universität München, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS/Bremen, Universität Bayreuth, Deutsche Sportjugend, Deutscher Olympischer Sportbund, Universität Ulm, Pädagogische Hochschule Weingarten, Robert-Koch Institut/Berlin, Justus-Liebig-Universität Gießen, MSH Medical School Hamburg, Karlsruher Institut für Technologie, Deutscher Sportlehrer Verband; Deutsche Berufsakademie Sport und Gesundheit/Baunatal; Universität Leipzig.

Zurück