Juni 2014

Praxis

Yoga für und mit Kindern

Die Haltungen und Übungsabläufe des Yoga unterstützen die Kinder in ihrem natürlichen Bewegungsdrang. Da viele Asanas nicht den alltäglichen Bewegungsmustern folgen, schulen die Kinder so ihre Motorik vielfältig. Dabei stärken sie ihr Körpergefühl und werden bewegungssicher. Durch den ständigen Wechsel von Anspannung und Entspannung in den Haltungen erleben die Kinder diesen Unterschied. Angeleitete Entspannungsphasen in der Gruppe helfen den Kindern zu lernen, auch zu Hause und selbstgesteuert zu entspannen.

Yoga ist eine Philosophie mit Wurzeln im alten Indien, die im Wesentlichen ein Ziel verfolgt: die Erkenntnis des wahren inneren Selbst. Dies wird als Grundlage angesehen, um ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben in und zum Wohle der Gesellschaft leben zu können. Die Wege, die im Yoga zu diesem Ziel führen können, sind sehr verschieden: Sie reichen vom Studium der überlieferten Schriften über den praktischen Dienst am Nächsten (Ehrenamt, Pflege etc.) bis hin zur körper-orientierten Praxis.
Im Westen ist das körperorientiere Yoga am weitesten verbreitet; es wird mittlerweile in vielen unterschiedlichen Formen und Stilen angeboten. Die Körperhaltungen und Variationen, die dabei praktiziert werden, machen beweglich, lösen muskuläre und andere Verspannungen und bewirken letztlich auch einen flexiblen Geist. Dieser wird durch spezielle Atemtechniken geschult und auf die sogenannten geistigen Techniken der Konzentration und Meditation vorbereitet. Auch bei dieser Form des Yoga ist das Ziel die Erkenntnis des eigenen Selbst, der eigenen Fähigkeiten und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Dennoch handelt es sich beim Yoga keineswegs um eine rein egozentrische Technik; in den yogischen Schriften finden sich vielmehr zahlreiche Hinweise zum freundlichen Umgang sowie zum Respekt und zur Toleranz gegenüber anderen Lebewesen.

Yoga für Kinder
Yoga ist für Menschen jeden Alters geeignet, vom Kind bis zum Greis. Erwachsene erwarten und bekommen in der Regel einen rational orientierten Yoga-Unterricht. Das Was, Wie und Warum wird sprachlich-logisch transportiert, bevor die sinnlich-körperliche Erfahrung erfolgt.
Kinder haben demgegenüber meist einen fantasievoll-kreativen Umgang mit den sogenannten Asanas (Haltungen im Hatha-Yoga), die allein schon durch die Namen ‒ zum Beispiel „Löwe“, „Baum“, „Berg“ ‒ zur Nachahmung herausfordern.
Der Zugang der Kinder zum Yoga ist somit direkter und beginnt gleich auf der sinnlich-körperlichen Ebene. Entwicklungsbedingt ist für Kinder die rationale Ebene des Übens nicht so wichtig.
Ein Kind übt nicht die Haltung der Katze oder des Hundes, das Kind ist in diesem Moment Katze oder Hund. Deshalb wird auch mal laut gebellt im Kinderyoga! Das vertieft gleichzeitig die Atmung und gibt Selbstvertrauen. Sich selbst in Bewegung zu erfahren ‒ wie dies beim Yoga durch das Einnehmen der Haltungen mit ihren fantasieanregenden Namen geschieht ‒ ist für Kinder ein Grundbedürfnis. Die Hirnforschung zeigt, dass Bewegung Denken und Geist strukturiert. Vor diesem Hintergrund kann Yoga auch in Bezug auf die Hirnentwicklung der Kinder als förderlich angesehen werden.

Kann jedes Kind Yoga üben?
Bei dieser Frage kommt es darauf an, in welcher Umgebung sich das Kind befindet. So machen im familiären Umfeld auch kleine Kinder gerne beim Yoga von Mama oder Papa mit. Die Nachahmung dessen, was „die Großen“ machen, ist Teil des kindlichen Alltags ‒ und davon bleibt die Yoga-Praxis nicht ausgenommen. Von erfahrenen Erwachsenen lassen sich schon Babys und Kleinkinder in verschiedene Yoga-Positionen führen, wodurch ihre motorischen Fähigkeiten gefördert und ihr Bedürfnis nach Bewegung unterstützt werden können. 
In einem Kurs oder einem pädagogisch angeleiteten Angebot, zum Beispiel im Kindergarten, können Kinder ab drei Jahren eigenständig Yoga üben.

Welche Vorteile bietet Yoga für Kinder?
Die Haltungen und Übungsabläufe des Yoga unterstützen die Kinder in ihrem natürlichen Bewegungsdrang. Da viele Asanas nicht den alltäglichen Bewegungsmustern folgen, schulen die Kinder so ihre Motorik vielfältig. Dabei stärken sie ihr Körpergefühl und werden bewegungssicher. Durch den ständigen Wechsel von Anspannung und Entspannung in den Haltungen erleben die Kinder diesen Unterschied. Angeleitete Entspannungsphasen in der Gruppe helfen den Kindern zu lernen, auch zu Hause und selbstgesteuert zu entspannen. Konzentrations- und die vielfältigen Meditationsübungen eröffnen auch schon Kindern neue Möglichkeiten, den Geist zu schulen und somit den Fokus ihrer Aufmerksamkeit selbstbestimmt zu regeln.
Das Nachstellen verschiedener Tier-, Pflanzen- und Landschaftsformen in den Yoga-Haltungen kann bei den Kindern ein tieferes Verständnis für ihre Umwelt entstehen lassen. Das Interesse an Umwelt-Themen steigt (nicht nur) bei Kindern in dem Maße, wie sie Tiere und Pflanzen benennen können. Durch die körperliche Nachahmung ist es möglich, einzelne Aspekte einer Pflanze oder eines Tieres regelrecht zu „verinnerlichen“.

Vorteile in der Gruppe/Klasse
Die Philosophie des Yoga gibt konkrete Verhaltens-Impulse für soziale Situationen, sodass Kinder nicht nur hören, was sie tun sollen, sondern erfahren, was sie tun können. Dazu gehören zum Beispiel Aufrichtigkeit und das generelle Nicht-Schädigen (ahimsa) von anderen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass man nach einer Lüge damit rechnen muss, entweder ebenfalls belogen zu werden ‒ und wem soll man dann am Ende noch trauen? ‒ oder als Lügner enttarnt und entsprechend ausgegrenzt zu werden. Deshalb empfiehlt der Yoga die Aufrichtigkeit (satya) im Umgang mit anderen Menschen.
Auch der Aspekt des Nicht-Schädigens wirkt in zwei Richtungen. Zum einen muss man nach der Schädigung eines anderen mit dessen Rache rechnen, verdirbt sich also selbst seinen Frieden. Zum anderen kann man von einem Menschen, dem man hilft oder den man unterstützt, wohl eher erwarten, dass er einem selbst zu Hilfe kommt, wenn man sie benötigt. So wies die Philosophie des Yoga schon immer deutlich auf die Verantwortung des Einzelnen für die soziale Umgebung und Gesellschaft insgesamt hin, in der sich Yoga-Praktizierende (Männer: Yogis, Frauen: Yoginis) bewegen.
In mehreren empirischen Studien und dokumentierten Einzelfällen konnten überraschende Erkenntnisse gewonnen werden, was den positiven Einfluss von Yoga auf das Sozialverhalten in Gruppen und Institutionen betrifft. An einer Grundschule in Essen begannen zunächst die Kinder in einer Klasse mit täglichen Yoga-Übungen bei ihrer Klassenlehrerin. Täglich wurden für etwa acht bis zwölf Minuten Haltungen des Yoga gemeinsam geübt und mit einer kurzen Atemwahrnehmung oder Meditation abgeschlossen. Als das Interesse anderer Klassen an dieser Yoga-Praxis wuchs, entschied sich die Schulleitung, nach und nach möglichst vielen Kindern ein tägliches Yoga-Üben in der Klasse zu ermöglichen. Bereits als erst knapp die Hälfte aller 300 Schülerinnen und Schüler eine solche kurze, aber tägliche Yoga-Praxis durchführte, veränderte sich das Sozialverhalten in den großen Pausen signifikant. Bis dahin hatte es auf dem Hof häufig aggressive Auseinandersetzungen zwischen den Kindern gegeben und die aufsichtführenden Lehrkräfte hatten die Uneinsichtigkeit der Beteiligten in diesen Situationen beklagt. Dies alles änderte sich langsam, aber nachhaltig, als die ersten Klassen begannen, Yoga zu praktizieren. Die Stimmung auf dem Pausenhof entspannte sich zunehmend. Die Übergriffe wurden seltener und blieben schließlich fast gänzlich aus. Besonders beeindruckend für die Lehrkräfte war das Verhalten der Kinder am Ende der großen Pause. Anstatt dass alle auf einmal durch die Türen drängelten liefen nur noch wenige Kinder nebeneinander hindurch, sodass es für alle deutlich schneller ging. Rempeleien wurden zur Ausnahme und von den Kindern missbilligend angesprochen ‒ mit dem Ziel, eine verträgliche Lösung zu finden.
So kann also die Yoga-Praxis von wenigen Menschen einen deutlichen Effekt für viele auslösen. Dazu bedarf es aber der Anleitung von geschulten Erwachsenen.

Vorteile für Erzieher/-innen bzw. Lehrkräfte
Gerade Erzieher/-innen und Lehrkräfte stehen häufig unter großem Erwartungsdruck von außen (Eltern, Träger, Lehrpläne). Sie unterrichten heterogene Gruppen (unterschiedliches Alter und Lern- sowie Sozialverhalten) und müssen einerseits die gesamte Gruppe im Blick haben und sich andererseits dennoch ganz auf die Bedürfnisse eines Einzelnen einlassen können. Ein gemeinsames Yoga-Üben mit der Gruppe oder Klasse verschafft hier nicht nur Ruhe und erhöhte Konzentration bei den Kindern, sondern kann auch die anleitenden Erwachsenen entlasten.
Dass das Verhalten von Erzieher/-in und Lehrkraft und das ihrer jeweiligen Gruppe bzw. Klasse sich gegenseitig beeinflussen, ist allgemein bekannt. Es ist also auch naheliegend, dass eine durch Yoga entspannte und fokussierte Lehrperson leichter eine günstige Lernatmosphäre für die Kinder ihrer Klasse herstellen kann. Eine entspannte Klasse wiederum ist leichter zu unterrichten, und so können sich positive Aspekte aufbauen.

Ist es leicht, mit Kindern Yoga zu üben?
Wer als Erzieher/-in oder Lehrer/-in einen professionell liebevollen Zugang zu Kindern hat, kann diesen viel vermitteln. Und sicherlich auch Yoga. Dazu sollte aber die anleitende Person selbst bereits über eigene Erfahrung mit Yoga verfügen. Der Fahrlehrer hat ja schließlich auch den Führerschein ‒ und die Lehrerin kann schreiben und lesen, oder? Klar ausgedrückt: Bitte nicht mit einem Buch in der Hand den Kindern etwas von Yoga vermitteln wollen, was selbst noch nicht durchdrungen und erfahren ist. Eigene Yoga-Erfahrung unter fachkundiger Anleitung in einem Yogastudio oder Kurs ist deshalb eine Grundvoraussetzung, um gemeinsam mit Kindern Yoga in den pädagogischen Alltag integrieren zu können. Verfügt man über diese eigene Yoga-Erfahrung, ist es dann wiederum wirklich leicht, mit Kindern Yoga zu üben. Denn Kinder verstehen die Asana-Praxis des Yoga intuitiv, haben viele gute Ideen und konstruktive Vorschläge für immer wieder wechselnde Variationen von Haltungen.

Voraussetzungen für Erzieher/-innen bzw. Lehrkräfte
Wenn Sie in Ihrer Einrichtung, ob Kindergarten oder Schule, Yoga als Angebot für die Kinder einführen möchten, so sollten Sie ‒ wie bereits angemerkt ‒ über eigene Übungserfahrung verfügen. Allerdings muss bedacht werden, dass die üblichen Yoga-Kurse für Erwachsene mit denen für Kinder nicht vergleichbar sind, weil die Voraussetzungen und Erwartungen der beiden Zielgruppen zu unterschiedlich sind. So wollen Erwachsene vor allem entspannen, beim Üben im Kurs vom Alltag abschalten und „bei sich ankommen“. Kinder hingegen leben im Yoga ihre Kreativität aus, haben große Freude daran, die Möglichkeiten ihres Körpers in den Haltungen zu entdecken, und lassen sich gerne auch auf eine Entspannungsgeschichte ein. Die sollte nicht länger als –vier bis sechs Minuten dauern, denn Kinder entspannen viel schneller als Erwachsene.
Um noch mehr über die zu berücksichtigenden Besonderheiten in der Yoga-Praxis mit Kindern zu erfahren und entsprechend kindgerechte Yoga-Einheiten vorbereiten und anbieten zu können, nutzen Sie am besten die Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung seriöser Anbieter.

Links und Literatur
•Auf der Website www.kinderyoga.de finden Sie zahlreiche Informationen zum Thema wie zum Beispiel eine Übersicht der Aus- und Weiterbildungsanbieter für alle deutschsprachigen Länder, Hinweise zu neuesten Forschungsergebnissen sowie deutschsprachigen Medien zum Thema.
•www.kinderyoga-akademie.de bietet pädagogisch orientierte Ausbildungen im Kinderyoga mit Thomas Bannenberg und Weiterbildungen zur Vertiefung einzelner Themen an. Regelmäßige Kursorte der Kinderyoga-Akademie sind: Berlin, Düsseldorf, Heidelberg, München, Zürich, Wien.

Aktuelle Bücher
Bannenberg, Thomas (2013): Yoga für Kinder, Verlag Gräfe und Unzer, ISBN 978-3833828782 ‒ jetzt auch mit DVD.
Bannenberg, Thomas (2013): Selbermachen! Yoga mit Yogichi: Das illustrierte Yoga-Buch für Menschen ab 5 Jahren. (s. Medienkiste)
Gulden, Elke/Scheer, Bettina (2012): Fröhliche Verse zum Kinderyoga. Don Bosco Verlag, ISBN 978-3769819564
Hajek, Olaf (2012): Little Gurus ‒ Ein Yoga-Entdeckungsbuch. Bohem Press AG, ISBN 978-3855815296
Zernick, Sonja (2013): Komm wir machen Yoga! Südwest Verlag, ISBN 978-3-517-08912-6
Die schönsten Partnerübungen für Eltern und Kinder; inkl. Audio-CD

Über den Autor
Thomas Bannenberg,Diplom-Sozialpädagoge FH, selbstständiger Moderator und Yogalehrer (BDY/EYU) seit 1985, mit Schwerpunkt Kinderyoga seit 1987. Zahlreiche Artikel zum Kinderyoga und Buchautor.

Aus- und Weiterbildungen im Kinderyoga in allen deutschsprachigen Ländern, mehr auf www.kinderyoga-akademie.de und Webmaster der Informations-Seite www.kinderyoga.de
Kontakt zur Kinderyoga-Akademie und zu Thomas Bannenberg: info@kinderyoga.de
Thomas Bannenberg ist Vater von vier Kindern und lebt mit seiner Familie in Heidelberg.