Januar 2012

Praxis

Das Märchen ABC

Für den pädagogischen Umgang mit Märchen – sei es für zuhause, im Kindergarten, in der Grundschule oder für weiterführende Schulen - gibt es hier viel Wissenswertes.

A wie Aschenputtel
Das kleine unscheinbare Mädchen Aschenputtel, bei Ludwig Bechstein heißt es Aschenbrödel, ist eine Märchenfigur, die in ganz Europa bekannt ist. Noch bevor die Gebrüder Grimm das Märchen aufschrieben (KHM 21), erzählte Charles Perrault eine französische Variante, die schon 1697 veröffentlicht wurde. Das arme Mädchen steht ganz unter der Fuchtel seiner bösen Stiefmutter, die ihre zwei leiblichen Töchter stark bevorzugt. Am Ende des Märchens geht für die Märchenheldin dank der Hilfe von zwei hilfreichen Tauben (Magische Helfer) alles gut aus: Das schöne Mädchen wird zur Prinzessin, die beiden Stiefschwestern gehen trotz der Verstümmelungen, die sie sich an ihren Füßen zugefügt haben, leer aus. 

B wie Brunnen
Der Brunnen gilt mit seinem dunklen langen Schacht als ein Symbol für die „vorbewusste Kultur“. Manchmal ist er der Eingang zum Reich des Todes (Quelle) und der Nacht. Es gibt auch Märchenforscher, die mit der Darstellung des Brunnens den Geburtskanal der Frau assoziieren. Ob und inwiefern diese Symbolik hilfreich ist für die Entschlüsselung dieses Märchenmotivs, bleibt dem jeweiligen Interpreten selbst überlassen.

C wie Christliche Symbole
In den meisten Teilen Europas dominiert trotz aller Säkularisierung seit über 1000 Jahren die christliche Kultur. Einige unserer Märchenstoffe sind sicherlich noch älter, aber die Märchen haben sich im Laufe der Zeit verändert und sich den kulturellen Begebenheiten angepasst. Die von Christen vor allem im 17. und 18. Jahrhundert so grausam verfolgten „Hexen“ zählen zu den typischen Märchenfiguren, obwohl sie ein Inbegriff des Heidnischen sind. Dennoch finden sich immer wieder christliche Symbole in vielen Märchen und auch christliche Tugenden werden oft eingefordert. Dem Aschenputtel sagte seine sterbende Mutter am Anfang der Geschichte: „Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.“ Und tatsächlich war es fromm und erntete dafür seine Belohnung. Auch die Zahlensymbolik im Märchen weist Parallelen zur biblischen Zahlensymbolik auf.

D wie Dornröschen
Das Dornröschen (KHM 50) ist eine Prinzessin, auf der ein Fluch liegt. Die dreizehnte Fee, die bei seiner Geburt nicht zur Tauffeier eingeladen war, hatte dies veranlasst. Sobald es sich an einer Spindel stechen würde, sollte es sterben. Die anderen geladenen Feen wandelten diesen Todesfluch um in einen hundertjährigen Schlaf. Tatsächlich stach sie sich, als sie fünfzehn war, an einer Spindel, und der ganze Hofstaat schlummerte mit ihr ein. Eine riesige Dornenhecke legte sich um das Schloss und erst hundert Jahre später gelang es einem Prinzen, das Dornröschen wach zu küssen: Ein Beispiel dafür, wie die Liebe eines Mannes die geliebte Prinzessin zu erlösen vermag.

E wie Erzähler(in)
Die eigentlich wichtigste Figur im Märchen ist die Erzählerin oder der Erzähler. Das Märchen war ursprünglich eine Gattung, die ausschließlich erzählt wurde, denn es gibt Märchen aller Wahrscheinlichkeit nach schon viel länger als die Schriftsprache, die vor ungefähr dreieinhalbtausend Jahren entwickelt wurde. Der Erzähler ist der, der das Märchen immer wieder zu neuem Leben erweckt. Dadurch veränderten sich jedoch auch die Märchen. Die Erzähler schmückten bestimmte Handlungsstellen aus, veränderten Details und manchmal ganze Handlungsstränge und passten die Geschichte ihrer Zeit und ihren Zuhörern an. Bei den verschiedenen Märchenausgaben der Grimms (Gebrüder Grimm) lässt sich zeigen, dass auch sie Märchen verändert haben (z.B. Rumpelstilzchen). Seit ihrer Sammeltätigkeit ist die Märchenerzählkultur immer mehr zu einer Vorlesekultur geworden. Man muss das nicht bedauern, denn jedem steht es weiterhin frei, Märchenstoffe eigenständig zu erzählen, zu verändern oder völlig neu zu gestalten.

F wie Fee
Was wären Märchen ohne die zumeist guten Feen? Feen sind weibliche Zauberwesen, die speziell im französischen Märchen meist die Aufgabe haben, das Leben mit Schönheit und Liebe zu erfüllen und für ein gutes Schicksal zu sorgen. Doch Vorsicht: Vergessen darf man nicht die dreizehnte Fee in Dornröschen. Manchmal können Feen also auch Unheil bringen. Leben sie im Wasser, dann nennen wir sie nicht Feen, sondern Nixen.

G wie Gebrüder Grimm
Wenn man das Wort „Märchen“ hört, denkt man völlig zu Recht fast immer sofort an die Gebrüder Grimm. Die beiden Hanauer Brüder Jacob Ludwig Karl und Wilhelm Karl sammelten seit 1807 Märchen und veröffentlichten ab 1812 die berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM). Die Märchen, die bis dahin meist nur mündlich weitergegeben und erzählt wurden, gab es von nun an in gedruckter Fassung und haben sich zu einem absoluten Bestseller entwickelt. Daher verdanken wir den Grimms, die zu den Begründern der Germanistik und der Märchenwissenschaften zählen, viele wunderbare Märchenstoffe, die ohne sie vielleicht verloren gegangen wären. Auf der anderen Seite hat sich durch sie die Märchenkultur auch sehr verändert: Märchen werden seither immer seltener erzählt und stattdessen eher vorgelesen (Erzähler).

H wie Hexe
Die Hexe ist im Märchen oft die böse Gegenspielerin. Sie ist meist ein altes Weib, das einsiedlerisch tief in einem Wald verborgen lebt, und mit grauslichen Sprüchen und Flüchen (Zaubersprüche) und geheimen Kräuterrezepturen magische Zaubertränke in einem Feuerkessel zubereitet. Oft hat sie die Aufgabe, den Märchenhelden zu prüfen. Gelingt es ihm, die Hexe zu besiegen, dann steht dem guten Ende nichts mehr im Wege. Ähnlich wie die Stiefmutter gilt die Hexe als die „Schattenseite“ der Mutter.

I wie Igel
Der Igel im Märchen „Der Hase und der Igel“ (KHM 187) ist eigentlich ein Betrüger. Nachdem der Hase sich über den Igel und seine krummen Beine lustig macht, fordert er ihn in der Buxtehuder Heide zu einem Wettrennen heraus. Beim Rennen läuft der Igel nur ein paar Schritte, im Ziel wartet nämlich schon ganz entspannt seine ihm zum Verwechseln ähnlich sehende Frau. Der Hase probiert es wieder und wieder gegen den vermeintlich schnelleren Igel zu laufen, bis er beim 74. Lauf tot zusammenbricht. Bemerkenswert an diesem Märchen ist nicht nur der dreiste Betrug des Igels, sondern auch, dass dies eines der selteneren Märchen ist, das einen lokalisierbaren Handlungsort hat. Dass es in Buxtehude spielt, geht auf Wilhelm Schröder (1808–1878) zurück, der dieses Märchen noch vor den Gebrüdern Grimm 1840 auf plattdeutsch veröffentlicht hat.

J wie Jäger
Das Revier des Jägers ist der Wald, der ein Schauplatz vieler Märchenerzählungen ist. Der Jäger tötet Tiere, aber mit Bedacht, und sorgt damit für die Ernährung der Menschen. Er ist das männliche, positive Gegenstück zur Hexe, die ebenfalls häufig im Wald zuhause ist. Für das Rotkäppchen und seine Großmutter ist er der Lebensretter, der den bösen Wolf tötet.

K wie Königreich
Märchen spielen fast immer in einer lang vergangenen, unbestimmten Zeit und häufig auch an nicht näher gekennzeichneten Orten. Oft spielen sie in einem Königreich, denn zu den typischen Märchenfiguren zählen Königin, König, Prinzessin und Prinz. Auch einfache Leute, die Untertanen, sind von großer Bedeutung. Meistens sind die Märchenhelden Menschen, die aus einem ärmlichen Milieu stammen, wie zum Beispiel Hänsel und Gretel, die Müllerstochter bei Rumpelstilzchen, Hans im Glück oder auch Aschenputtel. Prinzen und Prinzessinnen, die Stammhalter des Königreichs, spielen nicht selten auch als „Belohnung“ eine große Rolle, denn sie stehen für Schönheit, Reichtum und Macht. Das Reich mit seinen Ländereien, Wäldern und Dörfern wird im Märchen meist nur vage angedeutet. Eine der seltenen Ausnahmen ist ein Märchenreich mit dem Namen Lugabugien, über das Sie sich beim nächsten Buchstaben informieren können.

L wie Lugabugien
Lugabugien ist ein Märchenreich, von dem niemand so genau weiß, wo es liegt. Die Regierungsform dieses Landes ist überaus komplex. Es scheint dort mehrere Monarchien gleichzeitig zu geben, obwohl andere Reisende von einer „präsidialen Demokratie“ sprechen, bei der ein Präsident hinter unwissenden und machtlosen Königen die Fäden ganz im Sinne des Volkes zieht. So sehr die historischen und politischen Fakten Lugabugiens im Dunkeln liegen, so überraschend ist es doch, dass uns von dort eine Fülle von zauberhaften Märchen überliefert sind. Sie stammen aus der Feder des zeitgenössischen Märchendichters Christian Peitz und sind nachzulesen in „Der Märchenprinz im Märchenwald hört einen Schuss, der gar nicht knallt!“, „Eselsohr und Hahnenkamm“ und „Teelöffelmärchen“.

M wie Magische Helfer
Die magischen Helfer unterstützen den Märchenhelden bei der Bewältigung der ihm gestellten Aufgaben. Wann immer die Handlung eines Märchens in eine Sackgasse zu geraten droht, kann plötzlich ein kleiner magischer Helfer auftauchen, der einen entscheidenden Tipp hat oder mithilfe von Magie eine neue Handlungsoption herbeizaubert. Die sprechenden Tauben bei Aschenputtel helfen ihm immer wieder bis zu seiner Glückserfüllung. Auch die sieben Zwerge sind brave und treue Gefährten für Schneewittchen. Aber Vorsicht! Manch gutmütig erscheinender Helfer kann sich bisweilen auch als ein böser Widersacher entpuppen!

N wie Nacht
Meistens beginnen Märchen mit „Es war einmal…“ Wann genau es einmal war, bleibt im Dunkeln. So unbestimmt diese Zeitangabe ist, so wird doch oft genau erzählt, welcher Teil der Märchenhandlung tagsüber, und welcher nachts spielt. Nachts passieren oft die besonders geheimnisvollen Dinge. Das unerkannte Aschenputtel tanzt nachts mit dem Prinzen. Tief im Wald tanzt das Rumpelstilzchen des Nachts singend um sein Lagerfeuer. Besonders gruselig wird es, als die Geschwister Hänsel und Gretel sich nachts in einem tiefen, finsteren Wald verlaufen und auf die böse ®Hexe treffen. Wenn die Nacht die Märchenlandschaft ins Dunkle hüllt, dann ist also immer für Spannung gesorgt.

O wie Ohren
Wenn ein Märchenerzähler das Rotkäppchen (KHM 26) imitiert und fragt: „Großmutter, warum hast du so große Ohren?“, dann sind meistens auch die Ohren der kleinen Zuhörer ganz groß. Märchen sind dafür da, gehört zu werden. Fast alle Menschen, die Märchen kennen, und das sind fast alle Menschen, haben sie zuerst gehört. Wie damals zu den Zeiten, als Märchen noch eine reine Erzählgattung waren (Erzähler). Erst wenn man älter ist und das Lesen lernt, spielen die Augen eine zunehmend wichtigere Rolle. Aber die Ohren bleiben das dominante Sinnesorgan. Märchenhörspiele hören wir, die Bilder dazu entstehen ausschließlich in unserem Kopf. Übrigens gibt es ein sehr nettes Märchen aus Portugal, in dem auch die Ohren eine besondere Rolle spielen. Es heißt der „Prinz mit den Eselsohren“.

P wie Prinz und Prinzessin
Was wären Märchen ohne die schönen Prinzessinnen und die tüchtigen Prinzen? Diese Figuren bieten großes Identifikationspotenzial für kleine Zuhörerinnen und Zuhörer. Die Prinzenkinder haben fast immer ein reines Herz, sind Idealgestalten und stehen für die glückliche, sich erfüllende Liebe. Diese muss freilich vorher durch die Bewältigung von Aufgaben erst noch erworben werden. Manch psychoanalytisch orientierte Märcheninterpreten sehen in Anlehnung an Sigmund Freuds psychischen Apparat in der Bezeichnung Prinz/Prinzessin das „Ich“, im König das „Über-Ich“ (die Normen oder das Gewissen) und z.B. in der Hexe oder im Wolf das „Es“ (das Triebhafte).

Q wie Quelle
Die Quelle wird als Symbol für den gebärenden Mutterschoß gesehen. Sie ist ein Ort, der das Leben symbolisiert und ähnlich wie der Brunnen eine Verbindung zur Jenseitswelt herstellt. In der Märchenforschung hat die Quelle allerdings noch eine ganz andere Bedeutung: Dort gibt die jeweilige „Quelle“ an, woher ein Märchen stammt. Viele der heute erzählten klassischen Märchen haben ihre Quelle in der Märchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“ (=KHM) der Gebrüder Grimm. Diese mussten freilich wiederum auf andere Quellen zurückgreifen. In vielen Fällen haben sie sich die Märchen von Märchenerzählerinnen erzählen lassen (Erzähler(in)).

R wie Rumpelstilzchen
Rumpelstilzchen (KHM 55) scheint so etwas wie ein Gnom oder ein Zwerg zu sein. Es lebt allein in einem tiefen Wald, hat magische Kräfte (es kann Stroh zu Gold spinnen) und das eher rätselhafte Bedürfnis nach den kleinen Habseligkeiten der armen Müllerstochter und ihrem ersten Kind. In heller Vorfreude tanzt es in der ®Nacht leichtsinnig um ein Feuer und sagt seinen berühmten Spruch auf (Zaubersprüche). Doch wird es dabei belauscht und dadurch namentlich enttarnt. Während das Rumpenstünzchen (eine ältere Version von den Gebrüdern Grimm) daraufhin auf einem Kochlöffel davonfliegt, reißt sich Rumpelstilzchen bei lebendigem Leibe entzwei. In einer der neuesten Variationen dieses Märchenstoffes, dem Hörspiel „Rumpelstilzchen schlägt zurück!“ (Peitz), ist sein Name der Deckname des abtrünnigen achten Zwerges der berühmten Sieben Zwerge (magische Helfer).

S wie Stiefmutter
Die Stiefmutter ist im Märchen fast immer böse. Man denke nur an das arme Aschenputtel. Sie gilt als die dunkle Seite, der Schatten der Mutter. Felix von Bonin weist in seinem Kleinen „Handlexikon der Märchensymbolik“ darauf hin, dass die Stiefmutter oft eine bedrohliche Figur ist und es somit eine gewisse Verwandtschaft zur Zauberin, Riesin oder Hexe gibt.

T wie Teelöffel
Teelöffel sind ein eher selteneres Märchenmotiv. Es gibt jedoch einen kleinen, aber feinen Märchenband von Christian Peitz mit fünf Märchen, bei denen Teelöffel eine bedeutende Rolle spielen. Diese Märchen spielen im Märchenreich Lugabugien. Im Anhang dieses kleinen Büchleins „Teelöffelmärchen – Rührende Geschichten aus Lugabugien“ findet sich eine kleine „Löffel-Philosophie“, die in pädagogischer Absicht zum märchenhaften Philosophieren mit und über Löffel anregt.

U wie unglaublich
Unglaubliches passiert im Märchen. Tote können wieder zum Leben erweckt werden, arme Menschen werden oft sehr reich und magische Gestalten wie Hexen, Feen oder Zwerge (Magische Helfer) können Naturgesetze außer Kraft setzen und die verschiedensten Wünsche erfüllen. Tiere und Gegenstände können sprechen, ja sogar in einem Frosch steckt mitunter ein verwunschener Prinz. Märchen erzählen einfach von fantastischen Dingen. Deshalb sagt man heutzutage oft: „Erzähl mir doch keine Märchen!“, wenn man dem Erzählten keinen Glauben schenken will. Doch darf man bei all den „Unglaublichkeiten“ nicht vergessen, dass Märchen trotz alledem tiefe bedeutungsvolle Wahrheiten vermitteln.

V wie Verwandlung
Ein Wesensmerkmal von Märchen ist die Verwandlung, manchmal ausgelöst durch eine Verwünschung oder Verzauberung (unglaublich). Zur Aufgabe des Märchenhelden gehört es dann, diesen „Fluch“ rückgängig zu machen. Häufig kommt es vor, dass Menschen in Tiere verwandelt werden. Der Froschkönig, der ein verwunschener Prinz ist, wird zurückverwandelt, indem die Prinzessin ihn an die Wand wirft. Dass in dem Wort Wand und Verwandlung derselbe Wortstamm steckt, ist also kein Zufall. Denn eine Wand hat immer zwei Seiten, die Verwandlung kennt zwei Seinszustände.

W wie Wolf
Der Wolf ist ein Symbol für das Triebhafte (Prinz). Der Wolf ist listig, aggressiv und stellt oft eine große Gefahr dar. Er verschlingt die Großmutter und Rotkäppchen, nachdem er das Mädchen überredet hat, vom Weg ab zu gehen und Blumen zu pflücken. Auch die sieben Geißlein (KHM 5) übertölpelt er mit List und Tücke. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) sagte: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Doch tatsächlich sind Wölfe zwar Raubtiere, aber nicht so grausam, wie sie häufig dargestellt werden. Seit dem 19. Jahrhundert gilt der Wolf in Nord- und Mitteldeutschland als ausgestorben – Menschenwerk! Erst seit den vergangenen zehn Jahren leben hierzulande wieder vereinzelt Wölfe.

Z wie Zahlen und Zaubersprüche
Zwei typische Wesensmerkmale von Märchen sind magische Zahlen und Zaubersprüche. Besonders hervorzuheben sind die Zahlen drei und sieben. Oft hat der Held, zum Beispiel der jüngste von drei Brüdern, genau drei Aufgaben zu erfüllen. Schneewittchen (KHM 53) wird von sieben Zwergen (magische Helfer) versorgt und der böse ®Wolf bedroht die sieben Geißlein (KHM 5). Auch Zaubersprüche, häufig in Reimform, begegnen uns oft. Aschenputtels magische Helferinnen, die Tauben, weisen dem Prinzen den Weg zur richtigen Frau, indem sie sagen: „Rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuck (Schuh)! Der Schuck ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.“ Aber nicht immer helfen die Zaubersprüche demjenigen, der sie spricht. Als Rumpelstilzchen nachts ums Feuer tanzt und singt: „Heute back ich, morgen brau ich,/ übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;/ ach, wie gut dass niemand weiß,/dass ich Rumpelstilzchen heiß!“, wird es von einem Boten der Königin belauscht. Daraufhin muss diese, weil sie nun seinen Namen kennt, ihr Versprechen nicht einlösen und sie darf ihr erstes Kind behalten.


Praxis

Eingewöhnung in die Krippe - das Berliner Modell der Kleinkindpädagogik

Eingewöhnung ist häufig für alle eine Stresssituation. Aus diesem Grund sollte die Gestaltung der Eingewöhnung alle Beteiligten berücksichtigen: die verantwortlichen familiären Betreuungspersonen, das Kind, die Gruppenerzieherin und die Kindergruppe.

Die Eingewöhnung darf sich nicht nur auf das Kind beziehen, denn man hilft ihm wenig, wenn man nur auf seine Bedürfnisse eingeht, an die beteiligten Erwachsenen aber lediglich Forderungen stellt und ihnen über ein "Eingewöhnungsprogramm" Anweisungen für ihr Verhalten gibt. Einem solchen
programmatischen Ansatz (z.B. Laewen u.a., 1992) liegt ein Bild des Kindes zugrunde, das dieses als hilflos betrachtet. Mutter und Familie werden idealisiert, während außerfamiliäre Betreuung zumindest implizit als Risiko für eine ungestörte und gesunde Entwicklung des Kindes betrachtet wird. Im hier vorgestellten Ansatz geht es ganz wesentlich darum, alle an einer Eingewöhnung beteiligten Eltern und Erzieherinnen zu unterstützen: Sie sollten nicht noch weiter durch Instrumentalisierung für die Eingewöhnung des Kindes und Hinweise auf Risiken durch Fremdbetreuung für den Fall, dass sie Anweisungen nicht befolgen, belastet werden. 

Das soziale Netz der Eltern
Die Eltern sind Teil eines sozialen Netzes, das sich aus der eigenen biologischen Familie, Verwandten, Freunden und Nachbarn zusammensetzt. Wenn es irgend möglich ist, sollte man besonders alleinerziehende Elternteile ermutigen, die Last der Trennung nicht in Isolation zu tragen, sondern von ihrem sozialen Netz Gebrauch zu machen (z.B. von einem Partner, von Verwandten oder Freunden).
Eine weitere Quelle des sozialen Umfeldes, die meines Wissens nur selten unterstützend genutzt wird, sind Eltern von anderen Krippenkindern, besonders solche, die die Erfahrung der Eingewöhnung bereits gemacht haben und bereit sind, eine unterstützende Rolle für die neuen Eltern zu übernehmen.

Das soziale Netz der Krippenbetreuerinnen
Das Team als soziales Netz der Krippenbetreuerinnen kann die einzelne Betreuerin in der Eingewöhnungssituation unterstützen. In informellen Gesprächen und Teamsitzungen kann die betroffene Betreuerin ihre Erfahrungen mit Kolleginnen austauschen und dadurch emotionale Unterstützung und Perspektiven für ihr eigenes Verhalten gewinnen sowie neue Ideen und Ermutigung schöpfen. Auch die Leitung kann dabei eine wichtige unterstützende Rolle spielen.
Diese Empfehlungen setzen allerdings voraus, dass es keine gravierenden Team- und Autoritätskonflikte in der Einrichtung und keine ausgeprägte Intoleranz für neue Ideen gibt.
Die Vorbereitung der Erzieherinnen zur Gestaltung der Eingewöhnung Als erster Schritt erscheint  eine Fortbildung des Personals der Kindertagesstätte hilfreich. In dieser Fortbildung sollte die Konzeption der Eingewöhnung vorgestellt und diskutiert werden. Ein zentrales Thema ist dabei die generelle
Bedeutung einer kürzeren oder längeren zur Verfügung stehenden Zeit für die Anpassung oder für den Umgang eines Menschen mit wichtigen Veränderungen in seiner sozialen Umwelt. Ein zweites wichtiges Thema sind die gesellschaftlichen Vorurteile gegen außerfamiliäre Tagesbetreuung für Kinder in den ersten Lebensjahren und Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zu diesem Thema.

Empfehlungen für das Verhalten der Erzieherin
Bei den ersten Kontakten eröffnet die Erzieherin das Gespräch mit der Mutter. Es werden Informationen ausgetauscht, z.B. wie ein typischer Alltag mit dem Kind in der Familie aussieht und wie ein typischer Alltag mit den Kindern in der Krippe aussieht. Die Erzieherin kann zu diesem Zeitpunkt Informationen über den Tagesrhythmus und Erfahrungen des Kindes zu Hause sammeln, sowie über besondere Vorlieben und Abneigungen des Kindes und der Mutter. Allerdings braucht besonders eine Erzieherin mit geringer Berufserfahrung Unterstützung für die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Elternarbeit. Es ist nicht notwendig, dass ein Fachexperte für diese Unterstützung eingeschaltet wird.
Wichtig ist, dass sich die Erzieherin in dieser Situation nicht von ihren Kolleginnen und der Leiterin allein gelassen fühlt. Im Gruppenraum ist eine freundliche Interaktion zwischen Erzieherin und Mutter wichtig. Allerdings sollten Erzieherin und Mutter sich nicht miteinander unterhalten, während das Kind sich an die Mutter klammert. Für den Aufbau der Beziehung zum Kind ist es empfehlenswert, dass die Erzieherin anfänglich nur indirekten Kontakt mit ihm aufnimmt. Das kann auf verschiedene Art und Weise geschehen: auf die Signale des Kindes reagieren, dem Kind ein von ihm bevorzugtes Spielzeug hinlegen, ein Namensspiel mit der Kindergruppe initiieren, in welchem der Name des einzugewöhnenden Kindes mit einbezogen wird, um ihm so zu vermitteln, dass es in der Gruppe der anderen Kinder angenommen wird. Es ist ratsam, dass die Erzieherin einige Tage verstreichen lässt, bevor sie Körperkontakt mit dem Kind herstellt. Wenn das Kind sich verletzt hat, weint oder traurig ist, kann die Erzieherin, wenn die Eltern nicht anwesend sind, dem Kind Nähe und Trost durch Körperkontakt anbieten. Eine weitere Gelegenheit dazu ist der Abschied der Eltern, wenn die Erzieherin das Kind in die Arme nimmt und es solange hält, bis sich das Kind von selbst loslöst, was gewöhnlich nach einigen Minuten geschieht. Sie kann die Beziehung zwischen dem neuen Kind und der Kindergruppe am effektivsten fördern, wenn sie sich auf die von den Kindern hergestellten Kontakte konzentriert und sie Interaktionen zwischen den Kindern durch positive Zuwendung, durch das Anbieten von fehlendem Material oder durch Umgestaltung der räumlichen Bedingungen ermöglicht und erleichtert.

Die Kindergruppe
Kinder und die Kindergruppe bieten dem Eingewöhnungskind ganz andere Möglichkeiten als Erwachsene. Sie sind nicht so groß und mächtig wie erwachsene Betreuerinnen, und daher weniger bedrohlich. Kinder ertragen und lernen Konflikte viel leichter mit anderen Kindern als mit Erwachsenen zu lösen. Die Vermittlung positiver und negativer Gefühle von anderen Kindern hat eine weniger intensive Auswirkung auf das Kind, als dieselben Erfahrungen, besonders mit Erwachsenen, mit welchen das Kind eine enge Beziehung hat. Selbst Aggressionen, obwohl sie Weinen auslösen, sind von einem anderen Kind weniger bedrohlich als Aggression in der Form von Ablehnung oder
Beschämung von einem vertrauten Erwachsenen.

Empfehlungen an die Leitung und an das Team der Kindertagesstätte

Es sollte der Mutter nahegelegt werden, mit ihrem Kind regelmäßig zu einer gewissen Zeit in die Kindertagesstätte zu kommen. Wenn es nur eine Erzieherin für die Gruppe des Kindes gibt und mehr als ein Kind in derselben Woche eingewöhnt werden muss, dann ist es ratsam, dass die Mütter und ihre Kinder zumindest während der ersten zwei Wochen zu unterschiedlichen Zeiten anwesend sind. Die Erzieherin braucht Unterstützung während der Eingewöhnungszeit: wenn die Eingewöhnungsmutter mit ihrem Kind nicht zurecht kommt und Zuwendung und Hilfe braucht; wenn die Mutter kurz den Raum verlässt und jemanden braucht, mit dem sie reden möchte; wenn die Kinder sehr ausgelassen und schwer zu beruhigen sind; wenn ein Kind sich verletzt hat und die volle Zuwendung der Erzieherin braucht. In solchen Situationen sollte die Leiterin oder eine Vertretungskraft in der Lage und bereit sein auszuhelfen. Urlaub der betroffenen Erzieherin, Fortbildung außer Haus und Eingewöhnungswochen sollten womöglich langfristig so geplant werden, dass sie nicht überlappen. Wenn es irgendwie möglich ist, sollten Kinder aus anderen Gruppen, deren Erzieherin z.B. erkrankt ist, nicht in die Gruppe, in der Eingewöhnung stattfindet, verteilt werden. Mutter und Kind sollen erst nach Vertrautwerden mit der Situation, d.h. der Erzieherin, den anderen Kindern, der Leiterin und den anliegenden Räumlichkeiten den Übergang zum Frühdienst machen. Während der Eingewöhnungszeit ist es ratsam, größere Veränderungen auf ein Minimum zu reduzieren. Beispiele hierfür sind eine neue Raumgestaltung,
Umzug in andere Räume u.ä. Auch sollte das Eingewöhnungskind anfänglich nicht genötigt werden, körperliche Gewohnheiten zu ändern, z.B. seine Kleidung wechseln, mit den anderen Kindern baden u.ä.

Auszüge aus dem Berliner Modell der Kleinkindpädagogik
Ein Modell zur Unterstützung der aktiven Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Veränderungsstress
von E. Kuno Beller
Dieses Modell - Berliner Modell der Kleinkindpädagogik - wurde in großangelegten Projekten in Berlin und München auf seine Effektivität empirisch evaluiert. Damit erhielt das Modell ein wissenschaftlich gestütztes Fundament. Gestützt auf das Berliner Modell der Kleinkindpädagogik werden Fortbildungen für Betreuer und Erzieher von Kleinkindern in Kindertagessätten auf nationaler und internationaler Ebene, z.B. Dänemark, Schweiz, Italien, Spanien, durchgeführt.




Praxis

Über Märchen: Es war einmal....

Es heißt nicht ohne Grund, dass in den Märchen die Seele eines Volkes steckt. Legenden, Fabeln, Sagen, Schwänke, Lügen- oder Tiergeschichten: Märchen sind so vielgestaltig wie sie alt sind. Sie sind der überlieferte Schatz einer jeden Kultur. Erst durch die weltberühmte Sammlung der Brüder Grimm wurde die Bezeichnung Märchen für mündlich erzählte Geschichten populär und auch in andere Sprachen übernommen.

Märchenpersonal und Handlung
Sprechende Tiere und Pflanzen, Zwerge, Riesen, Hexen, Feen, Drachen und andere Fabelwesen gehören zum selbstverständlichen "Personal" von Märchen. Typisch für die Figuren ist, dass sie scharf kontrastiert sind: schön oder hässlich, gut oder böse, tapfer oder feige, schlau oder dümmlich. Ohne Verbindung zur Zeit verstehen sie es, zwischen Wirklichkeit und Zauberwelt zu wechseln.

Symbolische Zahlen, zum Beispiel die sieben (sieben Raben, Geißlein, Zwerge) oder die drei (drei Wünsche frei), und besondere Farben wie Gold prägen die Märchen. Märchen erzählen zumeist von der glücklichen Lösung eines Konfliktes. Ein Protagonist erlebt allerlei Abenteuer, Schicksalsschläge oder Läuterungen, um danach gestärkt daraus hervor zu gehen.

Es war einmal... Wurzeln des Märchens
In den schriftlichen Zeugnissen aller frühen Hochkulturen finden sich märchenhafte Züge. Das alte Ägypten war reich an Zauber- und Tiergeschichten. Das sumerische Gilgamesch-Epos, das vermutlich im 12. Jahrhundert vor Christus in Mesopotamien entstand und als älteste literarische Dichtung der Welt gilt, weist in vielen Passagen märchenhafte Formen auf. Die Epen des griechischen Dichters Homer und andere Sagen zeugen vom großen Reichtum an Märchen der alten Griechen. Indien wird eine vermittelnde Rolle zwischen den sehr alten Erzähltraditionen des Fernen Ostens und des Vorderen Orients zugeschrieben. Für die europäische Märchentradition waren die Beziehungen zum Orient, die über Byzanz und Nordafrika verliefen, von größter Bedeutung. Kreuzfahrer und Kaufleute, Pilger und Seefahrer brachten Stoff für Märchen mit nach Europa. Dort sorgten vor allem Spielleute für deren Verbreitung.

Märchen in Europa
Schon im 16. und 17. Jahrhundert schufen die Italiener Giovanni Straparola und Giovanni Battista Basile ganze Märchenzyklen. Die so genannten Feenmärchen waren im Frankreich des 17. Jahrhunderts sehr beliebt als Unterhaltung für den Adel. Ab 1704 erschloss die Übersetzung der "Geschichten aus 1001 Nacht" von Antoine Galland neue Märchenwelten. Bereits 1697 hatte Charles Perrault eine französische Märchensammlung vorgelegt, die im 18. Jahrhundert auch in Deutschland aufgenommen wurde. "Dornröschen", "Rotkäppchen" und "Der gestiefelte Kater" gehen nachweislich auf seine Sammlung zurück.

Die Brüder Grimm
Die deutschen Romantiker und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm erfassten den Reiz des mündlich überlieferten Erzählgutes. Sie erkannten darin die schöpferischen Kräfte eines Volkes - einen Kulturschatz, den es zu bewahren galt. Trotzdem rechneten die Brüder Grimm nicht mit einem wirtschaftlichen Erfolg, als sie die "Kinder- und Hausmärchen" 1812 und 1815 veröffentlichten. Für ihre Märchensammlung hatten sich die Brüder Märchen erzählen lassen und sie Wort für Wort festgehalten. Die Brüder Grimm weckten durch ihre Sammlung nicht nur das allgemeine Interesse an Märchen, sondern initiierten auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen. Neben der Märchensammlung wurde das "Grimmsche Deutsche Wörterbuch" das Lebenswerk der beiden Germanisten.

Die Psychoanalyse
Auch die Psychoanalyse, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, interessierte sich für Märchen. Bedeutsam wurden die tiefenpsychologische Untersuchungen des österreichischen Nervenarztes Sigmund Freud zum Verhältnis von Märchen, Traum und Sexualtrieb.
Der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung und seine Schüler zogen aus Märchen und Mythen Erkenntnisse über die seelischen Grundkonzeptionen der Menschen einer Kultur.
In jüngster Zeit arbeiten vor allem Kindertherapeuten mit Märchen. Sie bearbeiten anhand der zauberhaften Figuren und Konstellationen verdrängte Erlebnisse und Traumata der Kinder.

Und wenn sie nicht gestorben sind... Märchen heute
Heute stellen Märchen ein Angebot unter vielen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur dar. Insofern ist ihre einstmals dominante Stellung gebrochen. Neue Märchen für Kinder werden zwar in großem Umfang geschrieben und verlegt, nach wissenschaftlichen Untersuchungen des bekannten amerikanischen Kinderpsycholgen Bruno Bettelheim mögen Kinder jedoch die alten Märchen viel lieber. Zumindest in Mitteleuropa gehören die Märchen der Brüder Grimm, Hans Christian Andersens, Wilhelm Hauffs und Ludwig Bechsteins immer noch zum Grundstein der Kinderliteratur.