Märchenkinder: Warum Märchen wichtig sind

Märchen sind nicht gleich Märchen, wie man am Beispiel des “Struwwelpeter“ unschwer erkennen kann. Entsprechend heißt es für alle, die Kindern Märchen erzählen oder vorlesen möchten, nicht einfach nur einen Band der schönsten gesammelten Werke zur Hand zu nehmen, sondern bereits im Vorfeld einige Überlegungen und Vorkehrungen zu treffen, um das Erlebnis des Märchenerzählens zu einem ganz besonderen werden zu lassen.

Kindermärchen und Märchenkinder
Um in die Märchenwelt eintauchen zu können, sollte ein Kind das entsprechende Alter haben. Und dieses Alter hat es in etwa, wenn es sein 4. Lebensjahr erreicht hat. Doch auch dann heißt es, die Märchen sorgsam auszuwählen: in Bezug auf ihren Inhalt und in Bezug auf ihre Form.

Inhaltlich sollten die erzählten oder vorgelesenen Märchen ganz klar ein positives Ende haben und dem Gut-Böse-Prinzip folgen. Denn genau mit diesem setzen sich Kinder in dieser moralischen Phase ihrer Entwicklung auseinander. Deswegen ist der Philipp aus dem Kindergarten heute auch noch so gemein und überhaupt der gemeinste Junge der ganzen Welt, morgen aber schon wieder der allerbeste Freund, den man sich nur wünschen kann. Das kindliche Denken ist also gerade in jungen Jahren ebenso schwarz-weiß wie die Einteilung der Märchenwelt.

Formal sollten die ersten Märchen des Weiteren auf jeden Fall nicht nur kurz genug sein, so dass das Kind ihnen komplett in einem durch folgen kann, sondern auch nur einen einzigen Erzählstrang aufweisen. Dieser einzelne Erzählstrang garantiert, dass die unheimliche, traurige, ungerechte oder trostlose Situation, die zu Beginn des Märchens existiert oder entsteht, sich am Ende zum Guten gewendet hat.

Dieser Zusammenhang, diese Auflösung ist das A und O der Wirkung und der Nachhaltigkeit von kindgerechten Märchen. Und genau deshalb sollten sie auch immer an einem Stück erzählt oder vorgelesen werden. Das heißt nicht, dass das Kind nicht dazwischenfragen oder eigene Überlegungen einstreuen darf, es bedeutet nur, dass der positive Ausgang nicht als Erzählung auf den nächsten Tag verschoben wird. Denn damit lässt man die Kinder allein und verloren in ihrer Fantasiewelt zurück.

Erst, wenn das Kind ein wenig älter und mit den ersten Märchen auch schon vertraut ist, kann man auf komplexere Märchen ausweichen, die a) mehr als nur einen Erzählstrang haben und b) dann natürlich auch über mehrere Tage hinweg erzählt oder vorgelesen werden können.

Deshalb gilt: Eltern sollten die Wahl des jeweiligen Märchens, das sie vorlesen oder erzählen möchten, schon im Vorfeld treffen und dieses entsprechend zumindest schon einmal für sich selbst in Ruhe gelesen haben.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter
Da Kinder durch Märchen dort abgeholt werden, wo sie sich seelisch und emotional in ihrer Entwicklung befinden, kann die passende Auswahl des Märchens diesen Effekt zusätzlich stärken und gleichermaßen die Problemlösung der magischen Welt als Anreiz und Ermutigung zur Problemlösung in der realen Welt geben.

So wenig wie Weihnachtsgeschichten also im Sommer vorgelesen werden, so wenig sollten klirrend-kalte Wintermärchen in zauberhaft-warme Frühlings-Abende gelegt werden. Die Märchen sollten sowohl zur Jahreszeit, im besten Fall jedoch auch, wie oben bereits angedeutet, zur Stimmung des Kindes passen.

Findet dieses beispielsweise im Kindergarten oder auch generell schwer Anschluss können Märchen über Mut, über Aufeinander-Zugehen oder über Freundschaften dem Kind helfen, eine eigene Lösung für die reale Situation, in der es sich befindet, zu entdecken. 

Kinder denken in Bildern – magisch und zauberhaft
Kinder, insbesondere Vorschul- und Grundschulkinder, betrachten die Welt mit ganz anderen Augen als wir Erwachsene sie sehen. Ein einfacher großer Pappkarton beispielsweise ist für sie alles, aber kein einfacher Pappkarton. Er ist Piratenschiff, Ritterburg, Drachenhöhle, Märchenschloss, Puppenstube und vieles andere mehr. Niemals aber ist er nur ein einfacher Karton aus Pappe. Denn im Gegensatz zu uns Erwachsenen, die gelernt haben, dass die Dinge sind, was sie sind, die erfahren haben, was möglich ist und was nicht, kennt das Kinderdenken noch keine Grenzen. Für Kinder ist alles vorstellbar und somit auch alles möglich. Kinder erwarten sozusagen das Unerwartete. Entwicklungspsychologen beschreiben dieses kindliche Denken deshalb auch als “magisches Denken“ oder “zauberhaftes Denken“.

Magisches Denken braucht magische Anregung
Märchen-Gegner betonen immer wieder, dass sie ihren Kindern auch deshalb keine Märchen erzählen oder vorlesen, weil sie auf gar keinen Fall möchten, dass ihr Kind später nur noch in Schwarz-Weiß-Kategorien denkt. Die Welt also strikt einteilt in “Gut und Böse“, in “Schön und Hässlich“, in “Arm und Reich“, in “Mutig oder Feige“. Aber diese vergessen, dass auch das kindliche Denken sich erst entwickeln und unterschiedliche Farben und Facetten erkennen lernen muss. Ja, Märchen sind Schwarz-Weiß. Dem kann niemand widersprechen. Aber das kindliche Denken ist nicht anders – vor allem nicht im Alter von Kindergarten- und Vorschulkindern. Gerade in diesem Alter brauchen Kinder das Schwarz-Weiße, um sich orientieren zu können. Alle anderen Farben des sozialen Gefüges bilden sich erst sehr viel später aus. Ganz gleich, ob mit oder ohne Märchen. Was aber Märchen für dieses Alter so wichtig macht, ist, dass sich Kinder genau auf Grund des Schwarz-Weiß-Denkens mit den Märchenfiguren, ihren Erlebnissen und der Welt, in der sich die Figuren zurechtfinden müssen, so gut identifizieren können. Auch wenn es sich dabei um eine Welt oder eine Gesellschaft handelt, die in dieser Form heute gar nicht mehr existiert.

Märchenhafter Freiraum für die eigene Fantasie
Bekommen Kinder ein Märchen vorgelesen oder erzählt, hören sie es nicht nur, sie sehen, spüren und erleben, was passiert. Denn die von vielen Erwachsenen verachtete und oftmals als veraltet oder antiquiert bezeichnete Märchensprache löst genau das aus, was Kinder in diesem Alter brauchen: Märchenhaften Freiraum für die eigene Fantasie. Die veraltete oder antiquierte Sprache schadet ihnen dabei ganz bestimmt nicht, im Gegenteil: Sie fördert gleichermaßen das kindliche Sprachvermögen, seinen Wissensdurst und seinen Entdeckerdrang. Und: Sie gibt dem Kind Sicherheit. Denn mit der märchenhaften Formulierung “Es war einmal“ können sie sich entspannt auf eine blühende Reise ihrer Fantasie begeben. “Es war einmal“, die veralteten Sprachwendungen und eine Gesellschaft, die es heute nicht mehr gibt, nehmen das Kind zwar mit auf eine Reise, die ihm helfen, sich in der Welt zurechtzufinden, ohne es dabei in Angst und Schrecken zu versetzen, dass die Märchenwelt mit der realen Welt identisch ist. Denn die Märchensprache ist wie der eingangs erwähnte Pappkarton: Einfach, aber bildhaft und symbolisch. Für Mama oder Papa nur ein Pappkarton, für das Kind selbst all das, was es möchte, dass der Pappkarton ist. Die Märchensprache gibt dem Kind also nur das absolut Notwendigste mit, damit es seine Fantasie frei entfalten kann und überfrachtet es nicht mit vorgefertigten Bildern, die keinerlei Fantasie oder Vorstellungsvermögen mehr erforderlich machen oder zulassen. Und genau das schafft leider kein anderes Kinderbuch, kein Comic, keine Zeichentrickserie – und auch keine Märchenverfilmung.

Magische Handlungsanleitungen für das reale Leben
Jedes der klassischen Märchen beruht auf einer Überlieferung, die seit Jahrhunderten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Aus diesem Grund kann man Märchen auch als in Bilder übersetzte Lebenserfahrungen bezeichnen. Und auch, wenn wir uns mittlerweile im 21. Jahrhundert befinden, die Fragen, die sich unsere Kinder stellen, haben sich nicht geändert. Und damit auch nicht die Antworten. Was in vergangenen Jahrhunderten vielleicht die Angst vor langen Schatten im Wald war, ist heute vielleicht die Nacht erhellende Leuchtreklame, die Schatten ins Kinderzimmer wirft. Auch Kinder kennen Ängste, die uns noch nicht einmal bewusst sind. Und sie sind uns oftmals deshalb nicht bewusst, weil Kindern für das, was sie fühlen und erleben oftmals die Sprache oder eben das passende Bild fehlt, mit dem sie es vergleichen können. Und auch hier helfen Märchen. Denn jedes einzelne von ihnen schildert eine bestimmte Situation, in der sich der spätere Held des Märchens zu Anfang der Geschichte befindet. Eine Situation, die es zu meistern gilt. Und vor allem eine, die der kleine Held am Ende des Märchens auch gemeistert haben wird. Denn in Märchen wird – und das ist ebenfalls ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Punkt für das kindliche Denken – am Ende immer alles gut. Aus diesem Grund identifizieren sich die kleinen Zuhörer auch meistens mit der Heldenfigur, die zu Beginn des Märchens allerdings noch weit davon entfernt ist, ein Held zu sein. Denn ganz gleich, was das Kind gerade in seinem Inneren beschäftigt, womit es sich auseinandersetzen muss: Die Beispiele in den Märchen zeigen ihm, dass sich immer eine Lösungsmöglichkeit findet, wenn man nur die Verantwortung dafür übernimmt und nach ihr sucht. Und genau das macht Kinder stark, selbstbewusst und gibt ihnen das Gefühl von Sicherheit und Ur-Vertrauen. Bruno Bettelheim geht deshalb davon aus, dass Märchen die Kinder genau dort abholen, wo sie sich gerade seelisch und emotional in ihrer Entwicklung befinden. Wesentlich intensiver, handlungsorientierter und wirkungsvoller als jedes andere Kinderbuch das könnte. Oder wie schon Friedrich Schiller gesagt hat: „Tiefere Bedeutung liegt in den Märchen meiner Kinderjahre als in der Wahrheit, die das Leben lehrt."

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