Kindliche Entwicklung: Sinne, unser Tor zur Umwelt

Sie sind ein sensibles, in seinen Bestandteilen fein aufeinander abgestimmtes Netzwerk, was uns in die Lage versetzt, unsere Umwelt zu erfahren. Die Entwicklung unserer fünf Sinne wirkt sich ursächlich auf viele der menschlichen Fähigkeiten aus.

Schon Ungeborene nehmen ihre Umwelt wahr: Bereits im zweiten Schwangerschaftsmonat beginnt das Fühlen im Lippenbereich und breitet sich dann über den ganzen Körper aus. Ab dem vierten Monat bewegen sich die Augen und erkennen Licht. Kurz darauf beginnt das Gehör zu arbeiten. So hören Kinder vor der Geburt bereits den Herzschlag, die Geräusche des Verdauungsapparates und sogar Stimmen von außen. Geruchs- und Geschmackssinn prägen sich zuletzt aus.

Die Aufnahmefähigkeit der menschlichen Sinne ist sehr unterschiedlich: Die meisten Informationen verarbeitet das Auge. Der Tastsinn nimmt etwa ein Zehntel dieser Nachrichtenmenge auf, das Gehör wiederum zehn Prozent davon. Die wenigsten Informationen liefern uns der Geruchs- und der Geschmackssinn. Bei vielen Tieren sind die Empfindlichkeiten der verschiedenen Sinne anders verteilt oder ausgeprägt; so besitzen Hunde beispielsweise ein 50-fach größeres Riechorgan und können nach Schätzungen millionenfach besser riechen als Menschen. Bienen erkennen anders als wir auch polarisiertes und ultraviolettes Licht. Zitteraale nehmen elektrische Felder wahr. Und viele Zugvögel orientieren sich am Magnetfeld der Erde.

Doch auch beim Menschen gibt es nach heutigen Erkenntnissen mehr als die klassischen fünf Sinne. So besitzen wir einen Temperatursinn: Rezeptoren in der Haut messen die Umgebungstemperatur, andere die Bluttemperatur im Körper. Ganz ähnlich gibt es in der Haut Schmerzrezeptoren.

Zunehmende Beachtung gerade für die Entwicklung von Kindern erfahren der Gleichgewichtssinn und das Körperlageempfinden (Propriorezeption). Studien zeigen, dass diese Sinne bei Kindern heute sehr schwach ausgeprägt sind - sie aber eine hohe Bedeutung für ihre Lernfähigkeit besitzen. Darüber hinaus werden teilweise weitere Fähigkeiten als Sinneswahrnehmungen eingeordnet, etwa die Regulierung des Blutdrucks oder das Zeitempfinden.


Hören

Die Stimme seiner Mutter erkennt ein Baby nach der Geburt wieder. Auch der Klang der Muttersprache sowie während der Schwangerschaft häufig gehörte Melodien sind ihm vertraut. Unser Gehör ist erstaunlich empfindlich: Immerhin nehmen wir noch wahr, wenn ein Mensch in 35 Metern Entfernung leise atmet. Über das Trommelfell und die feinen Gehörknöchelchen gelangt der Schall ins Innenohr. Dort verstärkt die Schnecke die ankommenden Schallwellen. Winzige Härchen übersetzen dies in Nervenimpulse, die im Gehirn verarbeitet werden. Kleine Kinder können sehr hohe Töne bis etwa 20.000 Hertz (20.000 Schwingungen pro Sekunde) wahrnehmen; bei Erwachsenen verliert sich die Empfindlichkeit der Sinneshärchen, sodass wir meist nur etwa 8.000 bis 15.000 Hertz hören können.

Allerdings birgt die Empfindlichkeit des Hörsinns auch die Gefahr der Überreizung: Selbst im Schlaf sind wir "ganz Ohr", ständig filtern wir Geräusche. Jeder Lärm löst die Ausschüttung von Stresshormonen aus, selbst wenn wir ihn "ausgeblendet" haben. Die Folgen sind erhöhter Herzschlag und Blutdruck sowie messbare Einflüsse etwa auf Blut, Haut und Magen. Eine Studie im Gebiet des Münchner Flughafens wies bei Kindern nach, dass Lärmbelastung zu Schlafstörungen, erhöhtem Blutdruck und mehr Stresshormonen führte. Die Folgen waren messbar schlechtere Gedächtnisleistungen und längere Reaktionszeiten.

Ganz wesentlichen Einfluss hat der Lärmpegel auf den Lernpegel: In vielen Kindergärten und Schulen werden Lautstärken von 65 bis 75 Dezibel gemessen, mit Spitzen bis über 100 Dezibel - angenehm wären 54 Dezibel. Das ist anstrengend. Besonders problematisch sind Räume, die kaum schallisoliert sind. Besserung bieten dämmende Korkfliesen, Filzgleiter an den Stühlen und gespannte Stoffbahnen. Hilfreich ist der Wechsel zwischen fröhlichem Lärmen und Ruhezeiten zum leisen Spielen oder Lesen sowie häufiges Draußenspielen. Laute Spielzeuge wie Pistolen, Knackfrösche und Trillerpfeifen gehören nicht an Kinderohren.
 

Sehen

Wissenschaftler fanden vor einiger Zeit einen engen Zusammenhang zwischen Hören und Sehen: Das Innenohr ist notwendig für die räumliche Wahrnehmung, legen Versuche an Affen nahe. Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr hilft bei der Einschätzung von Distanzen. Die Sinne sind also eng vernetzt.

Das Sehen entwickelt sich vergleichsweise langsam. Neugeborene sehen lediglich nahe Gegenstände unscharf und verschwommen, denn das Gehirn kann die Sehreize noch nicht gut verarbeiten. Zudem können Babys in den ersten Lebenswochen beide Augen noch nicht exakt gleich bewegen. So dauert es einige Wochen, bis es seine Eltern von anderen Personen unterscheiden kann. Es muss das Sehen erst lernen - und perfektioniert dies bis zum sechsten Lebensjahr. Noch zwei Jahre länger dauert es, bis das Blickfeld dem von Erwachsenen entspricht. Jüngere Kinder sehen seitlich etwa ein Drittel weniger. Dies ist vor allem im Straßenverkehr von Bedeutung: Kinder sehen mögliche Gefahren aus den Augenwinkeln viel später. Zudem dauert bei ihnen die Informationsweiterleitung und die Umstellung von Nah- auf Fernsicht länger, was zusätzlich die Einschätzung von Geschwindigkeiten erschwert.

Das Auge besitzt verschiedene Sehzellen, die für unterschiedliche Wahrnehmungen zuständig sind: für Helligkeit, Graustufen, Farbe, Bewegung und Kanten. Ein großer Teil des Gehirns ist auf die Verarbeitung und Erinnerung von Seh-Erfahrungen spezialisiert - immerhin liefert dieser Sinn uns 80 Prozent unserer Informationen. Interessanterweise gibt es Hinweise darauf, dass die Sehzentren von Frauen und Männern leicht unterschiedlich aufgebaut sind. Wissenschaftler schließen daraus, dass Frauen und Männer möglicherweise mit unterschiedlichen Strategien Seh-Erfahrungen im Gehirn verarbeiten.

Wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass die Aufnahme von Tageslicht zudem eine bedeutende Rolle für die Gesundheit spielt. So sind Kinder bei Leuchtstofflicht deutlich unaufmerksamer und stressanfälliger als bei Tageslicht. Tageslicht hat höhere Beleuchtungsstärken (gemessen in Lux) als Kunstlicht: So müssen etwa Büros mit lediglich 500 Lux beleuchtet sein. Das Tageslicht erreicht jedoch selbst an grauen, bedeckten Wintertagen 3.000 Lux, an sonnigen Tagen können es 100.000 Lux werden. Tageslicht erhöht die Sehschärfe und die Erkennungsgeschwindigkeit. Das sehr konstante Kunstlicht ist zudem ermüdender als das wechselnde Tageslicht.

Das Dunkelhormon Melatonin wird bei Lichtstärken ab 2.500 Lux abgebaut,
was wesentlich zu Wachheit und guter Laune beiträgt. Auch die für das Wohlbefinden wichtigen Hormone Serotonin und Noradrenalin sind lichtgesteuert. Licht hat damit auch Einfluss auf unseren Stoffwechsel, den Wasser- und Vitaminhaushalt und das Immunsystem. Besonders in Kinderzimmern, Kindergärten und Schulen sollte viel natürliches Licht selbstverständlich sein - und viel Bewegung an der frischen Luft.

Autorin:
Dr. Anja Störiko ist Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin
Quelle: Kinderzeit - Printausgabe / Februar 2011



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